Presseinformation:

Dramatische Unter- und Fehlversorgung bei Zwangserkrankten

Pressemitteilung

“Zwangserkrankte fühlen sich verrückt bei klarem Verstand!”

Ein Lied aus dem Radio, das uns unaufhörlich durch den Kopf geistert, ein genau festgelegter Ablauf vor dem Schlafengehen oder eine wiederholte Kontrolle der Wohnungstür: Alltagszwänge und -rituale sind bei Erwachsenen und Kindern ein ebenso verbreitetes wie unbedenkliches Phänomen, versichert Antonia Peters, Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V. Zur Bewältigung von Unsicherheit scheinen Rituale und Zeremonien in Zeiten des Übergangs (z.B. bei der Einschulung oder Heirat) sowie großer emotionaler Belastung (z.B. durch den Tod einer nahestehenden Person) besonders wichtig und hilfreich zu sein. Wo aber hört die lieb gewonnene Gewohnheit auf und fängt eine behandlungsbedürftige Zwangserkrankung an?

Von einer Störung sprechen Experten dann, wenn die Marotte den normalen Tagesablauf erheblich beeinträchtigt und auch von den Betroffenen selbst als äußerst belastend empfunden werden. “Die Zwangserkrankten erkennen, dass ihre immer wiederkehrenden Gedanken und Handlungen im Prinzip unsinnig oder zumindest übertrieben sind – sie können sich aber nicht dagegen wehren. Sie fühlen sich somit in gewisser Weise verrückt bei klarem Verstand!”

Untersuchungen zufolge müssen in Deutschland rund eine Millionen Menschen zwanghaft waschen, putzen, kontrollieren, sammeln, ordnen und zählen. In anderen Ländern stießen Forscher auf ähnlich hohe Zahlen: Sowohl in Finnland, Indien und Hongkong als auch in  Ägypten, Uganda, der Türkei, Lateinamerika und den USA leiden jeweils 1 bis 2 Prozent der Bevölkerung unter behandlungsbedürftigen Zwängen. Betroffen sind gleich viele Männer und Frauen quer durch alle sozialen Schichten. Die Zwangserkrankung zählt damit zu den häufigsten psychischen Erkrankungen überhaupt.

Noch in den 70 Jahren galt die Zwangserkrankung als nicht oder nur eingeschränkt  behandelbar. In der Zwischenzeit steht aber fest, dass es durchaus erfolgversprechende psychotherapeutische und medikamentöse Behandlungsstrategien gibt. “Allerdings”, so Peters weiter “sind bestimmte Voraussetzungen für eine erfolgreiche Therapie erforderlich: Jeder Betroffene benötigt eine maßgeschneiderte Behandlung, die auch mehrstündige Sitzungen und gegebenenfalls Hausbesuche einschließt.”

“Die vorhandene Unter- und Fehlversorgung in Deutschland beeinträchtigt nachweislich die Besserungschancen”

Aber trotz nachgewiesener Therapieerfolge wird zur Zeit nur ein kleiner Prozentsatz der Betroffenen fachgerecht behandelt. Warum das so ist, ergänzt Prof. Hans Reinecker,Leiter der CIP-Ambulanz Bamberg sowie Mitglied des wissenschaftlichen Beirates der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V.

“In Deutschland haben wir eine problematische Unter- und Fehlversorgung der Betroffenen. Es dauert rund 5 bis 7 Jahre, bis die Patientinnen und Patienten eine zielführende Behandlung erhalten. Diese Irrwege im Gesundheitssystem beeinträchtigen aber nachweislich die Besserungschancen.”

In zahlreichen Einzelstudien und Meta-Analysen wurde laut Reinecker eindeutig belegt, dass eine Verhaltenstherapie die Zwangssymptomatik auch langfristig deutlich bessert. Im Rahmen einer entsprechenden Untersuchung gaben 70 Prozent der befragten 600 Patienten nach einer stationären, verhaltenstherapeutischen Behandlung an, dass sich ihr Zustand gebessert habe. Nach 3 bis 8 Jahren stuften immerhin noch mehr als die Hälfte Ihren Zustand als “deutlich gebessert oder “gebessert” ein.

“Für rund 8.500 Zwangspatienten steht gerade mal ein Therapeut zur Verfügung!”

Die ermutigenden Zahlen werden jedoch durch ein äußerst düsteres Bild in der therapeutischen Praxis getrübt: Im Therapieantrag geben nahezu alle Verhaltenstherapeuten an, ihre Zwangspatienten mit Konfrontation und Reaktionsmanagement zu behandeln. Tatsächlich wenden einer Untersuchung zufolge jedoch nur 33 Prozent der Therapeuten dieses für die Behandlung von Zwangserkrankungen bewährte Verfahren “immer” und weitere 39 Prozent “meistens” an. Und von diesen 72 Prozent sind dann nur 30 bis 40 Prozent bereit, mit dem Patienten auch außerhalb der Therapieräume (zum Beispiel Zuhause oder am Arbeitsplatz) zu üben, was sich laut dem Bamberger Zwangsexperten als besonders wichtig entpuppt hat. Als Grund dafür geben die meisten Therapeuten an, dass Ihnen die durch eine mehrstündige Sitzung außerhalb der therapeutischen Praxis anfallenden Kosten von den Krankenkassen nicht angemessen erstattet werden.

“Das bedeutet”, so Reinecker weiter, “dass für rund 8.500 Patienten lediglich ein Therapeut zur Verfügung steht, der bereit und in der Lage ist, Patientinnen und Patienten mit gravierenden Zwangsstörungen zu behandeln. Die Entwicklung neuer und neuster Verfahren ist somit gar nicht unbedingt erforderlich – ein großer Fortschritt wäre es bereits, wenn die wirksamen Verfahren wirklich konsequent angewandt würden!”

Anhang

Lebensläufe Betroffener (Untersuchung von Prof. Hans Reinecker):

Beispiel 1

Eine 30jährige Patientin mit belastenden Tötungsgedanken gegenüber ihren Kindern erhält bei der stationären Aufnahme von dem Leiter der psychiatrischen Abteilung eines bekannten Krankenhauses folgende Ratschläge:
· Sie solle sich schonen und “bloß nicht daran denken”!
· Wenn Angst und Unruhe zu groß werden, sollte sie sich in eine Decke einwickeln
· Sie solle unbedingt in die Gestaltungstherapie gehen
· Als sie den Wunsch nach einer Verhaltenstherapie äußert, sagt man ihr wörtlich: “Verhaltenstherapie bringt ja nichts!”

Beispiel 2

Ein 38-jähriger Patient leidet seit 20 Jahren an massiven Kontroll- und Waschzwängen, die bis zu 8 Stunden am Tag in Anspruch nehmen.
Zum Verlauf:
· Beginn mit circa 18 Jahren
· Aufsuchen des Hausarztes
· Abitur mit großer Mühe und medikamentöser Unterstützung
· Besuch eines Heilpraktikers
· Aufsuchen eines Psychiaters (ambulant) Diagnose: Symptomfreie Schizophrenie
· Mit 24 Jahren: Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik, 12 Wochen Behandlung mit Neuroleptika
· Wieder Besuch beim Heilpraktiker – Behandlung mit pflanzlichen Medikamenten
· Hausarzt, Überweisung in die Psychiatrie
· Ab 28 Jahren: großteils arbeitsunfähig und krank geschrieben
· 2 Jahre Psychoanalyse, die eine gewisse Beruhigung  bringt – aber keine Übungen zur Bewältigung des Problems
· Eltern veranlassen die Durchführung eines Exorzismus wegen angeblicher Besessenheit
· Zufällig erfährt der Patient von der Möglichkeit ambulanter Verhaltenstherapie