Es ist das Jahr 2500. Nach der kompletten Auslöschung allen Lebens auf dem Mutterplaneten Erde ist es einer Anzahl Überlebender gelungen, sich eine neue Welt zu erschaffen.

Wie jeden Morgen erwache ich pünktlich um sieben Uhr durch die ersten Strahlen des künstlichen Lichts. Ein leises Glockenspiel erfüllt den Raum, voll im Klang, als säße ich in einem Konzertsaal. Zur Erzeugung dieser wunderbaren Atmosphäre genügt ein Knopfdruck, ich spreche meinen jeweiligen Wunsch in das Mikrofon meines persönlichen Computers, der völlig auf meine Bedürfnisse abgestimmt ist und immer weiß, was ich brauche. Er sucht für mich dann das passende Stück heraus und spielt es mir exakt um sieben Uhr vor. Boxen sind überall, natürlich unsichtbar, in den Räumen installiert, so dass ich stets das gleiche volle und perfekte Klangerlebnis habe.

Wie jeden Morgen freue ich mich auf den beginnenden Tag. Heute gehe ich die paar Meter in meinen Badepool zu Fuß, mir ist danach, einige Schritte zurück zu legen. Normalerweise betätige ich das Laufband und lasse mich transportieren, aber da Bewegung für eine gesunde Lebensweise notwendig ist, bin ich heute einmal vernünftig. Mein persönlicher Freund kritisiert bereits seit Tagen meine geringe Motivation zum Ausüben der vorgeschriebenen Konditions- und Körperertüchtigungsübungen. Ich weiß schon jetzt, was passieren wird, wenn ich in den nächsten Tagen weiterhin nicht trainiere. Der Computer beginnt damit, meinen täglichen Bedarf an Harmoniepillen zu reduzieren, solange, bis ich seinen Anweisungen wieder bedingungslos folge. Die Harmoniepillen versetzen uns alle, die wir hier leben, tagtäglich in eine ausgeglichene und entspannte Stimmung. Denn obwohl ich mich in meiner Welt wohl fühle, falle ich des öfteren, manchmal nur für wenige Augenblicke, in eine Stimmung, die ich als ein Sehnen deute, ein Verlangen oder ein Suchen nach – … ? Ja, wonach eigentlich? Ich weiß es nicht. Ob es den Anderen ähnlich ergeht? Da wir außer bei den periodischen Treffen nur selten miteinander sprechen, kenne ich die Anderen nicht wirklich und weiß daher nichts über ihre Empfindungen zu berichten. Eines ist aber klar: In unserer neuen Welt können wir uns keine Stimmungsschwankungen, die uns von den wesentlichen Dingen abhalten, leisten. Gefordert sind ein klarer und wacher Verstand, volle Konzentration und innere Motivation. Die Harmoniepillen regulieren die Stoffwechselprozesse des Gehirns und versetzen uns in ständige Ausgeglichenheit. Wie uns die Vergangenheit nur allzu deutlich gelehrt hat, führen negative Emotionen schnell zu Unstimmigkeiten, die in  Krieg und Vernichtung münden können. Also wozu diese Gefühle weiter dulden? Sie sind für eine leichte, angenehme und effektive Lebensweise nur hinderlich.

Unser Verhalten ist vernünftig und maßvoll, da wir wirklich alles, was wir zu einem einfachen Leben benötigen, erst mühsam und mit großem Aufwand herstellen müssen. Unsere neue Heimat heißt uns nicht willkommen, wir haben uns ihr aufgedrängt.

Wir kennen keinen Überfluss und schwelgen nicht im Luxus, so wie es  auf alten Bildern und in Filmen dargestellt wird. Bereits bei der Nahrungsaufnahme müssen wir Maß halten. So nehme ich Sättigungs-Pillen ein, die mein Verlangen nach Nahrung regulieren und auch reduzieren. Die meisten künstlich hergestellten Nahrungsmittel schmecken ähnlich, weil sie alle die gleichen Vitamine und Aufbaustoffe, die der Körper benötigt, enthalten. Unterschiede bestehen in Form, Inhalt und Farbe. Bananen sind bei uns teilweise kreisförmig, es gibt roten und grünen Käse mit farbigen Löchern, Apfelsinen sind von außen grün und glatt, von innen gelb und faserig, Mineralmilch ist ein wunderbarer Durstlöscher. Eine Weile gab es das Schnitzel mit Originalgeruch. Da ich keine Schweine kenne, tue ich ihnen jetzt vielleicht Unrecht, aber ihr eindringlicher Geruch machte mir ihre Gattung nicht sympathisch. Dieser sehr ursprüngliche Charakter des Schnitzels wurde schnell wieder aufgegeben, stagnierte doch bald die Nachfrage.

Aber immerhin verband ich zum ersten Mal eine reale Sinneswahrnehmung mit einem Gefühl, was ich sonst nur in meinen Filmen erlebe.

Unsere Gesellschaft besteht aus fünf großen Einzelgruppen, die in verschiedenen Sektionen auf unterschiedlichen Planeten leben. Wir alle arbeiten zur Erhaltung unserer künstlichen Lebensform sehr eng zusammen, treffen aber durch die räumlichen Entfernungen selten aufeinander. Gerne amüsiere ich mich in meiner freien Zeit mit den Science-Fiction-Filmen vergangener Dekaden, staune allerdings über das naive Denken in diesen Streifen, scheint es doch so einfach zu sein, sich neuen Wohnraum zu erschließen. Obwohl wir nun schon viele Jahre intensiv nach lebensfreundlicheren Orten Ausschau halten, sind wir bisher nicht fündig geworden. Es ist uns sehr bewusst, dass der Planet, von dem wir ursprünglich stammen, wohl einzigartig gewesen ist. Ich brauche weder eine Religion noch irgendeine andere sinnspendende Lehre, aber bei dem Gedanken an die unendliche und vielfältige Schönheit, an den immensen Reichtum der Lebensarten und an die unglaubliche Perfektion der Lebensbedingungen auf dem alten Planeten Erde, glaube ich immer an ein Wunder. Werden wir jemals so eine freundliche Heimat wiederfinden?

Obwohl die Bewohner bereits zu Beginn des 21. Jahrhunderts sehr konkret um die vielfältigen Probleme auf ihrem Mutterplaneten wussten, taten sie doch nichts daran, diese zu beseitigen. Ganz im Gegenteil.

Während die westlichen Sektionen etliche Konferenzen abhielten zur Verbesserung der weltweiten Lebensbedingungen, zum Schutz der Natur vor weiterer Ausbeutung, viele Debatten führten und Beschlüsse fassten, die dann später nicht eingehalten wurden, kam es in anderen Sektionen zu nicht enden wollenden Glaubenskriegen, zu Terroranschlägen mit vielen Toten und Verwundeten, anderen Orts zu Hungerkatastrophen und Massensterben. Niemand war wirklich bereit, sich oder die Umstände zu verändern. Ein kluger Mann aus einer vergessenen Epoche sprach einmal folgendes Wort: „Es gibt nichts Gutes, es sei denn, man tut es.“

Niemand war bereit, auf den Anderen zuzugehen. Dabei wäre es noch nicht zu spät gewesen. Man hätte nur wirklich einmal innehalten müssen, um das eine und wahre Problem zu erkennen:

Das Fehlen von Menschlichkeit und Liebe. 

 Und  die Konflikte eskalierten.

 Dabei gab es bedrückende Erzählungen, die sich sehr konkret mit dem Untergang des Menschseins befassten. Besonders beeindruckend finde ich die „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley. Ich weiß, dass die Menschen damals ebenso beeindruckt waren, denn das Buch fand großen Anklang. Aber so richtig ernst genommen hat man die Geschichte wohl nicht. Heute gehört die dort beschriebene Zukunft längst der Vergangenheit an, denn die Realität hat sie bei weitem in ihrem ganzen schrecklichen Ausmaß übertroffen.

Man hoffte damals wohl auf den Sieg der guten menschlichen Eigenschaften wie Vernunft und Einsicht, Verantwortungsbewusstsein und Humanität. Man warnte vor dem Leben nach dem Mehr-Prinzip, welches zwar der einen Seite immer mehr Annehmlichkeiten brachte, dafür aber der anderen Seite immer weniger Lebensmöglichkeiten. Warum, so fragten kluge Köpfe, ging man nicht endlich daran, die endlos wehrenden Glaubenskriege zu beenden, indem man den Bewohnern neue und sinnvolle Lebensperspektiven zeigte, die nicht auf Kampf, Krieg und Märtyrertum abzielten? Und warum mussten Bewohner aufgrund von Hunger und Durst qualvoll sterben, während andere sich in ihrem Überfluss langweilten?

Aber wenn die Menschlichkeit stirbt, stirbt auch der Mensch. Einer drückte einen Knopf, ein Anderer meinte darauf antworten zu müssen, und schon gab es kein Leben mehr. Die Erde versank im grauen Nichts.

Manchmal erscheint es mir, als wenn sich die Isolation und die große räumliche Distanz zu den anderen Gruppen auf unser Zusammenleben ausgewirkt haben. Vielleicht leben wir alle seit der finalen Katastrophe in einem kollektiven Schockzustand, denn wirkliche Nähe und ein Zusammengehörigkeitsgefühl empfinde ich für die Anderen und mit den Anderen nicht. Bei gelegentlichen Zusammentreffen spüre ich in mir ein starkes Fremdsein, dabei interpretiere ich wohl nur meine eigene Distanziertheit und die Unfähigkeit, ein Gefühl für jemand Anderes aufbauen zu können. Wäre es nicht wesentlich sinnvoller, wenn wir ein menschliches Gefühl von Gemeinschaft und Gemeinsamkeit entwickeln könnten, da wir doch nur zusammen diese neue Welt erhalten können? Aber wir sind dem Menschsein gegenüber sehr misstrauisch geworden. Wie können wir stolz darauf sein, zu einer Gattung zu gehören, die es vorzog, sich selbst auszulöschen? Ich spreche von mir nur als einem Bewohner, das Wort „Mensch“ kommt mir selten über die Lippen. 

Die mangelnde Identifikation mit den menschlichen Werten und Beziehungssystemen hat wohl sehr zur Abschaffung derselben in den letzten Jahren beigetragen.

So besteht die Gemeinschaft der Ehe nicht mehr. Wir verlieben uns nicht, leben nicht zusammen, können kein eigenes Heim gründen und zeugen auch keine Nachkommen. Wir erlernen keine Elternrolle, wodurch bei mir oder auch anderen Bewohnern charakterliche Eigenschaften wie Verantwortungsbewusstsein, Fürsorglichkeit oder Beschützerinstinkte wenig ausgeprägt sind. Ich meine auch, keine typischen weiblichen oder männlichen Charakterzüge mehr feststellen zu können, da die Möglichkeit zur Auslebung des eigenen Geschlechts fehlt. Aus einigen Romanen der alten Zeit weiß ich, dass man früher nach persönlicher Weiterentwicklung strebte und hierin einen wichtigen Bestandteil des eigenen Lebens sah.

In unserer heutigen Zeit nur noch schwer nachvollziehbar, denn wir haben diese Möglichkeit der Entfaltung nicht.

Eine Seite von mir steht voller Überzeugung hinter dieser Abnabelung vom alten Menschsein.

Aber es gibt auch eine andere Seite, die sich in der letzten Zeit häufiger bemerkbar macht. Sie erscheint mir immer diffus und dunkel. Dann möchte ich am liebsten schnell eine Harmoniepille einnehmen, um mich besser zu fühlen. Die neue Welt kennt keine Natürlichkeit, denn sie ist vollkommen künstlich. Die einzigen lebendigen Wesen sind wir. Wenn meine dunkle Seite von mir Besitz ergreift, dann drängt sich mir  innerlich die Frage auf, ob meine Lebendigkeit noch etwas Natürliches hat?  

Leider sind alle Bewohner, die das Leben auf dem alten Planeten noch kennen gelernt haben, längst entschlafen.

Es gibt eine Störung des Gehirns, die sich Amnesie nennt. Man erleidet dann einen zeitweiligen oder ständigen Erinnerungsverlust. Wie arrangiert man sich mit der Gegenwart, wenn man überhaupt nicht weiß, wer man vorher war? Die Erinnerung formt die Persönlichkeit, hat man doch im Laufe der Jahre vieles gelernt und Erfahrungen daraus gezogen. Ich finde, mir ergeht es in meinem Menschsein wie einem Amnesiekranken. Die Vergangenheit zeigt mir das Schreckensbild der menschlichen Handlungsweise. Wie kann ich da mir selbst und den Anderen vertrauen? Wie weit dürfen wir menschlich sein? Können wir eine neue und bessere Menschlichkeit entwickeln?

Das Wasser im Pool ist bereits für mein morgendliches Badeerlebnis angewärmt, exakt auf meine Körpertemperatur abgestimmt, damit ich mich wohl fühle. Um die Durchblutung meiner Gliedmaßen anzuregen, umsprudelt die Flüssigkeit sanft meinen Körper. Die Wohlfühlfarbe meines Wassers ist an diesem Tag grün, genauer gesagt ein Blaugrün, schillernd und frisch, wie auf alten Bildern von Südseestränden oder Mittelmeerküsten. Mir stehen insgesamt über dreißig Farben zur Auswahl, aber meistens bleibe ich bei den Farben grün und blau, weil sie so natürlich wirken. Natürlich kann ich jede Farbe mit einer Duftnote kombinieren oder ein Meeresrauschen mit Möwengeschrei anstellen. Nach meinem Badegenuss gebe ich einige Tropfen Reinigungsmilch in das Wasser, so dass es mir morgen wieder vollkommen sauber zur Verfügung steht. 

Während ich noch im Pool verweile, registrieren die überall im Raum verteilten Sensoren einen Anstieg des Feuchtigkeitsgehalts der Luft. Sie beginnen lautlos die Luft umzuwälzen, indem sie trockenere Luft mit feuchterer Luft vermengen, um wieder den optimalen Feuchtegrad zu erreichen, der bei mir keine Beschwerden wie Kreislaufprobleme oder unnötiges Schwitzen hervorruft. In unserer Zeit werden wir nicht mehr krank wie früher, arbeiten doch unsere persönlichen Freunde, die Computer, Tag und Nacht daran, für uns die Umwelt so angenehm wie nur eben möglich zu gestalten. Mit Umwelt sind natürlich meine Räume gemeint, in denen ich nun bereits seit über dreißig Jahren lebe. Nur viermal in den vergangenen Jahren musste ich diese Räume notgedrungen verlassen, weil die Verwaltung meinte, die Brandschutzmaßnahmen überprüfen zu müssen. Natürlich gab es nichts zu beanstanden. Das Material der Leitungen, die die notwendigen Daten transportieren, ist resistent gegen Temperaturen. Längst hat man die Bewegung der Informationen, der Bytes und Bits, auf ein konstantes Maß geregelt, um eine Erwärmung oder Überhitzung der Datenbahnen zu vermeiden.

Unsere Verwaltung besteht aus fünf Bewohnern, die wir aufgrund ihres hohen Alters und der daraus resultierenden technischen Erfahrungen dazu befugt haben, ein gewisses Maß an Führung und wohlmeinender Kontrolle ausüben zu dürfen. Wenn die Akzeptanz ihrer Beschlüsse spürbar geringer wird, da sich niemand mehr um ihre Ausführung kümmert (was nachzumessen ist), ist ihre Amtsperiode abgelaufen.

Wenn ich von einem hohen Alter spreche, meine ich damit eine Lebensdauer von 120 bis 130 Jahren. Danach ist durch das permanente Einpflanzen von neuen Organen, Knochen oder Gewebeteilen nicht mehr mit einem exakten Zusammenspiel aller biologischen Funktionen zu rechnen. Stellt man bei einer erneuten Untersuchung irreparable Schäden fest, wird eine weitere Instandhaltung des Körpers nicht mehr genehmigt. Unsere persönlichen Freunde wissen sehr genau, wann es für uns Zeit ist, für immer einzuschlafen. Bei der nächsten Verabreichung unserer Pillen wird es dann eine geben, die uns in den ewigen Schlaf versetzt. Man muss sich davor nicht fürchten, denn die Träume, die uns hinweg führen, sollen sehr schön sein.

Die Zahl der Bewohner für alle Sektionen bleibt stets konstant, eine Überproduktion würde zu Raummangel führen, während eine Unterproduktion zu kostspielig wäre, da nicht alle Räume ausreichend genutzt würden. Daher gibt es eine strenge Kontrolle aller Zu- und Abgänge der Bewohner seitens unserer persönlichen Freunde.

Rede ich zuviel? Obwohl ich es angenehm finde, mich sprechen und über meine Gedanken philosophieren zu hören. Mein persönlicher Freund zeichnet alle meine Gespräche auf, hat es sich doch im Laufe der vielen letzten Jahre heraus gestellt, dass die Bewohner am liebsten sich selbst zuhören, werden dann doch nur die Themen angeschnitten, die am meisten interessieren. Wozu da noch anderen Bewohnern und ihren weitläufigen Gedanken folgen müssen? Allerdings habe ich bereits das Gefühl der Sehnsucht erwähnt. Seit einigen Jahren arrangieren unsere persönlichen Freunde Kommunikationsstunden. Vielleicht wissen sie inzwischen besser als wir, was uns gut tut. Obwohl ich Distanz und Fremdheit verspüre, gibt es doch auch so etwas wie Freude in mir, wenn ich die anderen Bewohner treffe. Eigentlich bin ich nicht gespannt auf das, was sie sagen, sondern eher darauf, wie sie es sagen. Ich bin  fasziniert von der Mimik und Gestik, von der Intensität und Leidenschaft, mit der wir auf einmal ausgestattet sind, wenn wir uns mitteilen wollen. Warum entsteht selbst bei mir ein Gefühl von Begeisterung, wenn sich alle Augen der Gesprächsrunde auf mich richten? Was können mir die Anderen geben, was ich mir selbst nicht geben kann? Ein lustiger Gesprächspartner aus der letzten Kommunikationsstunde gab in jeder Gesprächspause den Kommentar von sich, dass wir doch alle hinter dem Mond lebten. Er erklärte, er habe diese Redewendung aus einem Film übernommen, weil er sie so witzig fand, denn sie ergab absolut keinen Sinn. Wir alle leben doch auf und nicht hinter dem Mond! Auch wir mussten über diese recht seltsame Aussage lachen. Nur wenn die Zusammenkünfte sind, wird es in unseren stillen Räumen lauter. Für jeden von uns sind sie zweimal in einem Zeitraum von dreißig Tagen vorgeschrieben. Ich treffe mich mit verschiedenen, anderen Bewohner in den großen Versammlungsräumen. Unsere Gesprächsrunden dauern ungefähr zwei Stunden, wobei es vorgeschrieben ist, mit mindestens fünf Bewohnern zu kommunizieren. Dabei ist der Redeanteil auf fünf Minuten beschränkt, damit ein Jeder seinen Beitrag leisten kann. Die Gespräche werden genauestens aufgezeichnet, denn nach den Kommunikationsstunden erhält jeder Teilnehmer von seinem persönlichen Freund einen Fragebogen, der den genauen Ablauf und die einzelnen Themen dieser Stunden abfragt. Dann muss die Quintessenz eines jeden Gesprächs wiedergegeben werden. So wird geprüft, inwieweit man sich auf seinen jeweiligen Gesprächspartner eingestellt und ihm zugehört hat. Für die genaue und detaillierte Wiedergabe einer jeden Kommunikation werden Punkte vergeben. Fehlen wichtige Bestandteile des Gesprächs, oder hat man am Ende sogar das ganze Thema nicht parat, gibt es strenge Punktabzüge. Nach Ablauf von drei Gesprächsperioden werden dann die Punkte eines jeden Bewohners errechnet. Derjenige mit den meisten Punkten ist periodischer Kommunikationssieger und darf vor der versammelten Bewohnerschaft eine persönliche Rede halten, in der dann meistens von neuen technischen Errungenschaften oder interessanten Virtualfilmen gesprochen wird. Diese Themen interessieren uns alle, bringen doch Weiterentwicklungen mehr Lebensspaß und Wohnkomfort, während die Filme den Alltag versüßen.

Die virtuellen Filme sind für uns alle außerordentlich wichtig, verbringen wir doch die meiste Zeit damit, uns in ihren Welten aufzuhalten. Durch eine  ausgereifte Technik ist es mir und auch allen anderen möglich, all das zu erleben, was uns die Realität vorenthält. Der Computer erfragt meine Wünsche detailliert, so dass es ihm möglich ist, genau die Orte, Zustände und Situationen zu erschaffen, die meinen Vorstellungen entsprechen. Dann setze ich meinen Raumhelm auf und beginne meine Reisen. Meistens fliege ich  zurück in die Vergangenheit. Nicht etwa, um gegen Drachen zu kämpfen oder in den Weltenraum zu düsen. Ganz im Gegenteil: Ich suche nach Natürlichkeit. Ich genieße einen Spaziergang durch einen hellgrünen Frühlingswald. Ein anderes Mal liege ich am Ufer eines grenzenlosen Meeres und werfe einen langen Blick über den Horizont. Dabei spüre ich den sanften Wind, der mein Gesicht umfächelt und schmecke Salz auf meiner Haut. Oder ich befinde mich des Nachts auf einem Feld und erblicke den funkelnden Sternenhimmel. Immer brennt in mir dann ein Gefühl, als wenn sich mein ganzes Wesen dieser unendlichen Weite entgegen streckt. In solchen Momenten erfühle ich mein Leben und das der ganzen Welt. Ich bin mit allem vereint.

Wenn mir nach Spielen oder Abenteuern zumute ist, versuche ich mein geringes Talent beim Fußball- oder Baseballspielen. Um uns herum jubeln die Massen in einem riesigen Stadion, ich bin aufgeregt.

Manchmal bin ich auf meinen Trips nicht alleine, sondern habe eine Frau und Kinder bei mir. Und wir lachen und sind gemeinsam glücklich.

Wenn ich nach einer Weile in meine eigene, künstliche Welt zurück kehre, die vielen glimmenden Geräte aus Chrom und Stahl betrachte oder womöglich einen Blick auf die karge Mondlandschaft werfe, bin ich verwirrt. Natürlich haben wir gelernt, mit diesem permanenten Wechsel der Realitäten umzugehen. Aber trotzdem fällt es mir manchmal schwer zu begreifen, warum mir die anderen Möglichkeiten eines natürlichen  Daseins für immer verwehrt bleiben. In solchen Momenten verstehe ich meine innere Sehnsucht und mein Suchen. Aber ich weiß auch, dass etwas anderes niemals sein wird. 

Meine Arbeit erledige ich nebenbei, zum Glück ist sie auf drei Stunden pro Tag festgelegt, so dass mir viel Zeit für meine Aktivitäten bleibt. Jeder der Bewohner arbeitet nicht mehr als diese drei Stunden, denn sonst wäre nicht für alle Arbeit da. Aber es wird als notwendig angesehen, uns sowohl die angenehmen Dinge als auch die Pflichten, die es manchmal im Leben gibt, beizubringen. Im Wesentlichen bin ich bei meiner Aufgabe mit der Kontrolle der Daten für eine geregelte Luftkonzentration in unserer Sektion verantwortlich, da wir die Atemluft künstlich herstellen müssen. Schon kleinste Unregelmäßigkeiten in der Sauerstoffherstellung können massive Folgen für unsere Bewohnerschaft haben, reagieren doch die Lungen sehr empfindlich auf nicht exakte Luftgemische. Bisher ist es jedoch erst ein einziges Mal vorgekommen, dass ich eingreifen und die Maschinen korrigieren musste.

Wenn uns eines im Leben beigebracht wurde, dann war es die Forderung nach perfekter und exakter Arbeit. Unsere Welt ist fragil, schon der kleinste technische Fehler kann verheerende Folgen für unseren Fortbestand haben. Und die Arterhaltung ist das oberste Ziel einer jeden Gattung.

Wir existieren durch die Maschinen, schaffen sie doch das künstliche Umfeld, indem wir leben, da die natürlichen Ressourcen aus alten Zeiten längst verloren sind. Alles wird uns von den Maschinen gegeben, die wir einmal selbst erschaffen haben, die aber bereits seit Jahrhunderten die absolute Kontrolle über jegliches Dasein übernommen haben. Wir Bewohner haben dafür zu sorgen, dass die Maschinen uns ihre Dienste stets zur Verfügung stellen. Es ist eine gegenseitige Abhängigkeit, die aber beide Seiten zufrieden stellt.

Wie bereits erwähnt, muss die Zahl der Bewohner einer Sektion konstant gehalten werden, da nur begrenzte Unterbringungsmöglichkeiten bestehen. Unsere persönlichen Freunde errechnen die Geburtszahlen pro Jahrgang. Nachdem die Verwaltung den Planzahlen zugestimmt hat, werden in den Geburtsstätten die neu benötigten Bewohner in Produktion gegeben. Krankheiten und genetische Defekte sind ausgeschlossen, nur absolut gesunde Ei- und Samenzellen werden für die künstliche Befruchtung verwendet, das Heranwachsen der Embryos wird durch ausgeklügelte Brutmaschinen sichergestellt, selten gibt es Abgänge. Nach der neunmonatigen Brutphase kommen die neuen Bewohner in sogenannte Aufzuchtsstätten, da sie durch ihre ungenügende Lebensfähigkeit auf die Hilfe von anderen Bewohnern angewiesen sind. Dort verbleiben sie drei Jahre. Danach beginnt die Ausbildung für die später zu verrichtende Tätigkeit. Das Erlernen der unterschiedlichen Aufgaben wird durch den persönlichen Freund überwacht, der eigens für den Bewohner, seine Fähigkeiten und Bedürfnisse, eingerichtet wurde. Er wird unser ständiger Begleiter und ist in jedem Augenblick unseres Lebens für uns da.

 Jemand aus einer früheren Zeit möchte vielleicht fragen, worin der Sinn unserer Daseinsform besteht? Darauf kann ich nur antworten, dass es keinen Sinn gibt. Ich lebe, und ich bin froh zu leben.

Bisher sind es die Maschinen, denen ich vertraue. Aber immer öfter höre ich tief in mir eine zaghafte Stimme, die mir leise sagt, dass ich mir selbst vertrauen kann. Vielleicht gelingt mir ein neues Menschsein? Ich wünsche es mir sehr. 

Manchmal öffne ich eine der automatischen Luken meines Raumes und schaue auf den Planeten, von dem wir alle kommen. Er leuchtet nicht mehr.