Zwangsräumung – Der Auszug des Herrn Grübel

(von Gabriele Raubart)

 Seit Jahren plage ich mich mit einem Mieter von mir herum, der anfangs unauffällig und geruhsam bei mir wohnte, dann aber zusehends zu einem unangenehmen und aufsässigen Mitbewohner wurde. Zuerst hatte ich die vielen Gemeinheiten feige herunter geschluckt, wollte – brav wie ich nun mal war – keinen Ärger und keine Schuldgefühle auf mich laden. Dann aber wurden mir Herrn Grübels Angewohnheiten zu viel, er zahlte keine Miete, er stänkerte und krakelte, er beleidigte mich, entwickelte das diffuse Wesen eines Stalkers und, das brachte das Fass letztlich zum Überlaufen, fing an, mich komplett dirigieren und leiten zu wollen.

Natürlich war es lange hin mein eigenes Unvermögen, was sein Verhalten förderte und begünstigte, aber ich muss zugeben, dass ich zeitweilig Angst vor diesem Herrn hatte.

Nichtsdestotrotz habe ich nun vor einigen Tagen meinen Anwalt eingeschaltet und mich beraten lassen, was ich für Möglichkeiten bezüglich meines Parasiten habe. Er riet mir zu einer Räumungsklage. Per Gericht sollte Grübel eine Anweisung bekommen, die ihm mitteilte, dass er sich unverzüglich aus meinem Haus entfernen sollte.

So ist es gestern geschehen. Die Mahnung wurde übergeben, ich hörte, wie sich ein kurzes Gespräch zwischen dem Gerichtsbeamten und Grübel entwickelte.

 Eine Stunde später klingelte es heftig an meiner Wohnungstür, bangen Herzens machte ich die Tür auf, wusste ich doch bereits, wer draußen stand. Richtig, mein verärgerter Nachbar baute sich drohend vor meiner Tür auf.

Es kam zu folgendem Dialog, zur Vereinfachung nenne ich Herrn Grübel “Grü” und mich “Gra”.

Grü: Guten Tag.

Gra: Guten Tag. Wie geht’s?

Grü: Nicht so gut, Sie wissen schon warum.

Gra: Sie meinen die Zwangsräumung?

Grü: Ja, genau, was soll das?

Gra: Nun, ich denke, dass wissen Sie sehr genau. Sie haben ihre Grenzen sehr weit überschritten.

Grü: Was für Grenzen?

Gra: Sie haben sich in mein Leben eingenistet. Das möchte ich nun nicht mehr.

Grü: Aber früher waren Sie dankbar dafür, da brauchten Sie mich sogar.

Gra: Vielleicht, aber jetzt brauche ich Sie nicht mehr, ich komme alleine klar.

Grü: So? Woher wollen Sie das wissen? Bisher sind Sie nach zwei bis drei Tagen rückfällig geworden, haben sich hinter mir versteckt, waren nicht in der Lage, Verantwortung für die eigene Person zu übernehmen. (Lächelt spöttisch).

Gra: Aber nun möchte ich es. Ich bedanke mich nicht bei Ihnen. Sie haben immer dafür gesorgt, dass ich Sie gebraucht habe. Es war mir nicht möglich, für mich alleine Entscheidungen zu treffen, weil Sie mir immer etwas anderes gesagt haben als ich es wollte. Sie wussten stets sehr genau, wie Sie mich manipulieren konnten, schließlich leben Sie schon Jahrzehnte mit mir.

(Grü will intervenieren, doch ich lasse ihn nicht zu Wort kommen)

Ich bin jetzt erwachsen, habe geübt ohne Sie klar zu kommen, habe versucht, auf meine eigene Stimme zu horchen und ihrem Weg zu folgen.

Verstehen Sie?

Niemand kommt mit einem Parasiten zur Welt. Ich bin nicht geboren worden, um mich ein Leben lang mit Ihnen auseinandersetzen zu müssen.

Herr Grübel, ganz ehrlich: Dazu wird mir meine Zeit allmählich zu kostbar. Sie müssen gehen, wenn nicht freiwillig, werde ich andere Maßnahmen zu Hilfe  nehmen. (Eine leichte Rötung zeigt sich bei Grübel, er kaut auf seinen Kiefermuskeln herum, ansonsten bleibt seine Miene ruhig).

Grü: Dass ich nicht lache! Was für Maßnahmen denn? Wollen Sie mich verprügeln oder in die Luft sprengen? Sie wissen doch überhaupt nicht, wie Sie mich loswerden können.

Gra: Doch.

Grü: Na denn, was haben Sie sich denn ausgedacht? Bedenken Sie, ich kann Gedanken lesen, ich kann Gedanken steuern, ich kann sogar Ihre Gefühle manipulieren. Wer sind Sie denn? Ein Nichts! Ein Niemand! Völlig plan- und verantwortungslos, feige bis auf die Knochen, ein Jammerlappen, ein egoistischer Blender.

Ich mache Sie fertig, ich mache Sie zu einem hochgradig psychotischen Nervenbündel. Was bilden Sie sich ein? Wer sind Sie denn? (Tatsächlich erscheint auf meinem Gesicht ein Lächeln)

Gra: Ich bin Gabriele. ICH BIN NUR ICH.

Grübel weicht einen Schritt zurück, die Augen zusammen gekniffen, zwei helle und hasserfüllte Augen, voller böser und hinterlistiger Energie. Wiederum lächele ich ihn an.

Grü (zischend und schwer atmend): DAS lasse ich mir nicht gefallen. Dann:

Grü: Du entkommst mir nicht! Du nicht! Du bleibst für immer bei mir.

Im ersten Moment fühle ich bei diesen Worten Furcht und Enge. Aber gerade diese Enge will ich aufreißen.

Gra: ICH BIN GABRIELE. NIEMAND SAGT MIR, WER ICH BIN. NIEMAND SAGT MIR, WAS ICH ZU TUN HABE.

Verschwinden Sie!

Und noch was: Ich kann Sie nicht leiden, Sie sind für mich Abschaum und Dreck. Jemand, der nur Böses im Schilde führt.

Aber nicht mehr bei mir, denn ICH bin stärker, klüger und lebendiger. Als ich geboren wurde, habe ich mein Leben gemocht. ICH bin geboren worden, um das Leben – mein Leben – zu lieben.

Dahin will ich, und ich komme dahin.

Hauen Sie ab!

Herr Grübel wendet sich ab, ohne sich noch einmal umzudrehen. Aber ich weiß, wie er denkt, und daher bin ich ihn noch nicht los. Bestimmt ich habe ihn mit meinen Worten getroffen, sicherlich auch nachdenklich gestimmt, leider nicht im positiven Sinne. Nur eines kann er nicht abwenden oder besiegen: Meinen Willen!

Die folgenden Tage höre und sehe ich Grübel nicht. Trotzdem weiß ich, wie er mich beobachtet, analysiert und neue perfide Pläne schmiedet. Manchmal, wenn ich durch das Treppenhaus gehe, höre ich nur per Zufall, wie eine Tür leise zugemacht wird, vernehme über mir auf der Treppe tapsige Schritte, merke, wie manchmal meine Türklinke sanft herunter gedrückt wird.

Grübel gibt nicht auf.

Tatsächlich klingelt er eine Woche nach der ersten Auseinandersetzung wieder an meiner Tür. Als ich öffne, steht Grübel vor mir, korrekt in einem schwarzen Anzug, das karierte Hemd bis zum obersten Knopf zugeknöpft, die braunen Schuhe gestriegelt und glänzend, kurzum: Ein Biedermann vom Scheitel (gerade gezogen) bis zur Sohle (aus Leder, so hört man ihn nicht so schnell).

Nun entfaltet sich an meiner Haustür folgender Dialog:

Grü: Erst einmal guten Tag. So geht das nicht, wie Sie sich das vorstellen. Ich kann nicht ausziehen, Sie brauchen mich. Sie wissen es nur noch nicht. Vielleicht sind Sie auch in einer schwierigen Phase. Nun, ich habe Sie beobachtet, was sie sicherlich nicht bemerkt haben. Ich möchte auch nicht, dass Sie sich durch mich beengt oder bedroht fühlen. (Bei diesem Satz ein Grinsen auf meinem Gesicht.)

Aber Sie können ihr Leben nicht ohne mich leben, wissen Sie denn nicht, wie gefährlich es da draußen ist? Wie schutzlos Sie ohne mich sind?

Sie wollen doch wohl keine unnötigen Risiken eingehen, schließlich sind Sie dumm und unerfahren. Grübel holt tief Atem, um in seiner Predigt fortzufahren.

Diese Pause nutze ich, um mich in das Gespräch einzubringen.

Grab: Herr Grübel, lassen Sie mich bitte (selbst hier bleibe ich noch höflich) Auch einmal ein paar Worte sagen. Also. Es ist in der Tat so gewesen, dass ich mich, trotz ihres behutsamen (hier benutze ich imaginäre Anführungszeichen, die ich mit den Händen in die Luft male) Auftretens in den letzten Jahren von Ihnen bedroht fühlte. Und nicht nur das, auch eingeengt und weggeschlossen.

Dabei bin ich richtig krank geworden. Anfänglich meinte ich ja, sie würden es gut mit mir meinen, aber im Laufe der letzten Monate bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass gerade das Gegenteil der Fall ist.

Sie meinen es gar nicht gut mit mir!

Jetzt sage ich Ihnen mal was, worüber Sie gleich in Ihrem stillen Kämmerlein nachdenken werden: Vor ner Woche haben Sie mir erzählt, ich sei ohne Sie ein Jammerlappen, eine Null und ein Niemand.

FÄLLT IHNEN ALLMÄHLICH VIELLEICHT AUCH AUF, DASS SIE MIT DIESEM BILD UNS BEIDE VERWECHSELN?

Die Null sind Sie, ebenso ein Niemand. Ohne mich könnten Sie doch überhaupt nicht existieren. Ohne meine Gedanken, ohne meine Grübeleien, ohne meine ängstlichen Gefühle.

ACHTUNG: JETZT GUT ZUHÖREN, HERR GRÜBEL:

!!! Ich bin Sie leid. Sie langweilen mich, Sie machen mich müde.

Ich weiß auch, wie abhängig Sie von mir sind, ohne mich kein Zuhause mehr haben. Folgenden Deal biete ich Ihnen an, Sie wären sehr dumm, darauf nicht einzugehen. Sie dürfen bei mir wohnen bleiben, wenn Sie sich zukünftig ruhig verhalten. Weder will ich Sie sehen noch hören, Sie bleiben still in Ihrem Kämmerlein. Kein Lärm, keine Boshaftigkeit, keine Maulereien, keine Kritik, keine Beobachtung, keine Einmischung in meine Angelegenheiten, keine neunmalklugen Bemerkungen.

Nichts, einfach nichts, wird mehr von Ihrer Seite an mich heran getragen.  

Sie haben jetzt eine Stunde Zeit, über meinen Vorschlag nachzudenken. Wenn Sie einverstanden sind, haben Sie weiterhin ein stilles Kämmerlein. Wenn Sie nicht einverstanden sind, werfe ich Sie auf die Straße, und in den Allerwertesten werde ich Ihnen auch noch treten. Darauf hätte ich schon die ganze Zeit Lust.

Grübel ist blass geworden.

Er öffnet den Mund, doch ich lege den Zeigefinger auf meine Lippen, Grübel weicht zurück, ich nicke ihm zu und schließe die Tür.

Eine Stunde vergeht, doch ich höre nichts von ihm. Nur ein leises Vibrieren, als würden die wütenden Gedanken aus seiner Wohnung schwingen und durch die Wände zu mir dringen. Dann aber lassen die Schwingungen nach.

Ich vernehme ein leises Pochen. Richtig, als ich öffne, steht ein sehr bleicher und geschrumpfter Grübel vor der Tür.  

Mein Blick ist prüfend und abweisend.

Grübel macht den Mund auf und haucht ein schwaches: Okay.

Dann schleicht er in seine Wohnung zurück.

Damit er aber immer daran denkt, sich ruhig zu verhalten, habe ich noch folgendes getan: 

Ein Foto von mir machen lassen, Großaufnahme, wie ich meinen Zeigefinger auf die Lippen lege und meinem Nachbarn so signalisiere, keinen Laut mehr von sich zu geben.

Das klappt. Mein Nachbar verhält sich seitdem ruhig. Was er den ganzen Tag macht und tut, interessiert mich nicht mehr, ich habe genug mit meinem Leben zu tun.

Zehn Jahre bis zum Leben

(von Schean)

Das Mädchen war oft gefallen. Auf den Boden, sich die Knie aufschlagend, oder die Ellenbogen, blutend. Geweint, geweint hatte das Mädchen sicher und dass man sie in den Arm genommen hat ist ebenso wahrscheinlich, wie die Annahme, dass wilde Ermahnungen auf sie einher rieselten, vielleicht sogar, für das Mädchen und selbst alle Beteiligten unbegründet erscheinender, Zorn. Pass auf. Sei nicht so patschert.

Später, und daran erinnert sich das Mädchen noch, ist nicht mehr sie gefallen, ein Glas, oder ein Teller, zerbrochen, am Boden. Die Schuld ging ihr durch und durch, der Glaube, unfähig und dumm zu sein, schlich sich schon damals, vorsichtig, in ihren Kopf. Das Mädchen saß oft im Gras. Grünes Gras. Rauschender Wind. Bienen, kleine große, von Blüte zu Blüte und bunte Falter, die sie aber nicht mochte. Die Falter nahm sie stets wahr, sie zuckte zusammen, sprang auf und lief weg. Fort, nur fort.

Vielleicht quälte sie die Erinnerung an das Marmeladeglas am Dachboden. Das Marmeladeglas der Oma, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Herbst für Herbst, Schmetterlinge zu fangen, im Glas zu halten um ihnen damit das Überleben zu sichern, den nächsten Frühling. Dass die Flügel des Tieres so zerbrechlich waren und Berührungen nicht gut vertragen konnten, das alles war der Oma fremd, sie freute sich über das bunte Tier, dem sie helfen wollte und dem Mädchen graute.

War da kein Falter, so starrte das Mädchen ins Grün. Sie mochte das Grün, mochte die sanften Bewegungen der Gräser im Wind und nahm sie doch meist, anders als die Schmetterlinge, nicht wahr.

Das Mädchen träumte.

Manchmal träumte das Mädchen ein anderes Wesen zu sein, ein Zwerg vielleicht, dem das Gras dann wie ein Wald erschiene, oder eine wunderbar schöne Prinzessin, errettet aus einem Hohen Turme, von einem Prinzen vielleicht.

Meist aber hielt sich das Mädchen in der Zukunft auf.

In zehn Jahren, so dachte sie, wäre sie so schön, wie die Mädchen auf den Plakaten, oder die großen Mädchen in der Schule. Sie wäre dann bestimmt sehr gescheit, wüsste bescheid über das Leben. Sie könnte dann leben.

Jetzt noch, da fürchtete sich das Mädchen, da hatte sie Angst. Manchmal, da lag sie nachts wach und hatte sich gerade davor den ganzen Tag gefürchtet, hatte angestrengt gedacht und zu Gott gebetet, er möge sie doch nachts schlafen lassen. Meist aber betete sie zu Gott um ihn zu bitten ihr die leidige Sache, das Essen, zu erleichtern. Sie betete stets dieselben Gebete in gleicher Reihenfolge, drei mal drei, das müsste sich gut auswirken, so dachte sie.

Drei mal drei.

Dann saß sie am Tisch und wartete auf das Wunder, das nie eintraf. Schluckte schwer. Und nachts betete sie wieder. Drei mal Drei. In zehn Jahren also, da wäre das sicher anders. Niemand mehr würde sagen – mein Gott bist du dünn – oder – iss mehr, bitte, iss mehr – und schlafen, das könnte sie auch. Auf einer schönen Bettwäsche würde sie schlafen, vielleicht mit Blumen drauf, oder bunten Strichen.

In zehn Jahren, da täte sie das, was sie jetzt nicht tat, hätte sie viele liebe Freundinnen, vielleicht käme dann sogar ein Junge um sie zu küssen, vielleicht. Aber Angst, die hätte sie nicht mehr.

In zehn Jahren, da wäre jede Angst gewichen, dann könnte sie leben. Ihr Leben leben.

Das Mädchen war immer schon schwierig, immer musste man mit ihr zum Arzt, denn stets tat ihr sämtliches weh. Einatmen und Ausatmen. Abtasten. Mund auf, Zunge flach legen, „ah“ sagen.

Der Doktor war meist zufrieden, sagte es gäbe da nichts, äußerte nur ruhig, das Kind wolle wohl mehr an Aufmerksamkeit haben, wäre ein bisschen trotzig, man solle sich nicht sorgen. Viele Kinder waren doch so. Sehr viele.

Die Mutter lächelte und zwang sich zuversichtlich zu sein. Ein Arzt hat Recht, muss Recht haben. Das Mädchen wurde sicher zu sehr verwöhnt, war das erste Kleinkind seit langen und alle erfreuten sich ihrer. Sie solle sich also bitte zusammenreißen, solle keine Probleme machen, war doch schon groß. Um Himmels Willen.

Das Mädchen spielte gern. Mit Puppen und Autos, mit Äpfeln und Gräsern, Doktor und Geschäft.

Und dann träumte sie sich doch wieder weg. Und ihn ihren Träumen begegnete sie kühnen Helden, ja, war selbst einer, eine Heldin war sie, wunderschön. Fehlerlos. Da fühlte sie keine Schuld, kein Versagen.

Und dann dachte sie wieder an die Zukunft und wusste – in zehn Jahren da würde alles besser.

Zehn Jahre noch bis zum Leben.

Was ist los mit der kleinen Frau

(von Hidaya)

Was ist los mit der kleinen Frau

Ich beobachte sie schon seit langer Zeit, wie sie voller Hast und Unruhe eine Vielzahl von Dingen kontrolliert. Immer wieder muss sie, wie aus einem inneren Zwang heraus ständig den Gasherd kontrollieren, ob er auch wirklich aus ist?

Der Blickkontakt alleine reicht schon lange nicht mehr. Nein. Sie ist gezwungen, die Gasknöpfe mit den Fingern zu berühren, dann mit verschränkten Händen auf den Rücken so weit Abstand zu halten, dass sie an die mögliche Gefahrenquelle nicht mehr heranreicht…

Während sie laut zählt, dass selbst die Ohren es hören können, stampft sie gleichzeitig mit dem Fuß. Ein abschließender Blick kann, wenn er nur ein wenig abgelenkt ist von anderen Dingen, den Zweifel erneut hervorbringen. Früh am Morgen, wenn der Schlaf noch in ihr ist, muss sie besonders wachsam sein. Da sie weder ihren Ohren, noch ihren Augen, weder ihren Händen, noch

ihrer Stimme alleine glauben kann, ein Restzweifel die Kontrolle immer noch verstärkt, ist sie mitunter gezwungen, dies Ritual unendlich viele Male zu wiederholen.

Wenn ich sie so in ihren Verrenkungen betrachte, wo der Körper fast zu sprechen scheint, frage ich mich, ob es möglich ist, dass sie wie ein kleines Kind immer noch daran glaubt, Gedanken könnten Dinge berühren, ein magischer Blick allein schon etwas Unvorstellbares auslösen könnte, wofür man ihr dann möglicherweise die Schuld geben würde.

Woher nur diese grenzenlose Angst, die fliegt, fast wie ein Vogel von einem Gegenstand zum anderen? Ob es um die Lampe geht, die aus ist. Ja sie ist aus. Das Bügeleisen, was sicherheitshalber zur Beobachtung auf den Flur gestellt werden muss, weit entfernt von der Steckdose, wobei der Stecker noch einmal mit der vorher abgetrockneten Hand berührt werden muss, ob er nicht doch heiß ist. Nein, es ist alles in Ordnung. Ich frage mich: Weshalb hat diese Frau nur kein Vertrauen zu sich selbst und warum vertaubt sie ihre Sinne so? So sehr ich mich auch bemühe, ich kann ihr Verhalten einfach nicht verstehen. Gern hätte ich ihr unsinniges Verhalten weiterhin aus der Distanz heraus beobachtet.

Was mich aber bei der ganzen Sache beunruhigt, ist, dass sie mir merkwürdig vertraut vorkommt. Manchmal scheint es mir, als würd ich sie schon ewig kennen. Mehrmals habe ich versucht, sie anzusprechen, um sie nach der Ursache ihres eigenartigen Verhaltens zu befragen, aber ich erreiche sie nie. Ständig weicht sie mir aus. Wahrscheinlich will sie nicht von alten Dingen sprechen.

Ich erinnere mich: Damals war es die Tür, die immer abgeschlossen sein musste. Mit fast ohnmächtiger Wut wurde der Griff der Tür fast herausgerissen, damit ja keiner nachts in die Wohnung eindringen konnte. Später habe ich mich gewundert, dass sie nicht verschlossen war und ich mitten in der Nacht das Haus betreten habe. Ich habe sie gefragt, ob damals, als sie noch ein Kind war, jemand nachts ins Zimmer eingedrungen sei während sie schlief, und sie dann einen irren Schrecken bekam, der sie nie mehr verließ, aber sie erinnert sich nicht mehr, wie sie mir auch merkwürdig getrennt von eigenen Gefühlen vorkommt. Vor Schreck vielleicht erstarrt.

Ich mache mir Sorgen um sie und habe ihr mehrfach meine Hilfe angeboten, aber es scheint mir, als hätte sie irgendwie aufgegeben und würde sich kaum einem Menschen wirklich anvertrauen. Zuweilen fühle ich mich sehr hilflos, wenn ich ihr zu erklären versuche, dass die Zwänge nicht immer vor unangenehmen Gefühlen schützen werden und sie sich irgendwann einmal ihrer eigentlichen Angst stellen muss.

Wenn ich den Verlauf betrachte, wie harmlos alles anfing, glaube ich, dass die ständige Kontrolle die Angst verstärkt hat, so, als hätte man ihr ständig neue Nahrung gegeben, sie aber immer in dem gleichen Käfig gefangen gehalten. Sie ständig aufgefüttert, ihr aber niemals die Freiheit gegeben.

Ich gerate in hilflose Wut, wenn ich sehe, wieviel Energie die Frau aufbringt, um ihre Angst zu binden, wie sehr sich schon alles verselbständigt und eigene Gesetze bekommen hat und wie völlig egal es ist, ob sie den Kampf aushält oder nicht.

Sie versucht, sich dann auch zu erklären, gibt ihren Leidensdruck zu und probiert, sich anzulehnen. An manchen Tagen, wenn Verzweiflung und Mutlosigkeit hinzukommen, habe ich wenig Hoffnung und viel Mitgefühl. In ihrer größten Not nehme ich sie in den Arm (wie leicht sie ist). Gemeinsam gehen wir ans Fenster und blicken in die Nacht. Der Sternenhimmel über uns, der einäugige Mond. Dinge, die unendlich vertraut und tröstlich sind. In solchen Nächten scheint alles möglich. Wir sind der Wirklichkeit entrückt, gleichzeitig aber sehr nahe.

Ein Sturm kommt auf und bläst um uns herum. Wir halten uns fest an den Händen. Uns wird ein wenig schwindelig wie auf einer Karussellfahrt. Ein kalter Wind lässt alles ganz starr werden.

Was geschieht mit uns?

Als der Boden ins Wanken gerät und wir eng aneinander gezwängt werden, wächst zwischen uns eine vogelartige Gestalt, die wie wild um sich schlägt und uns voneinander trennen will. Ich versuche mich ganz dünn zu machen, um das Tier nicht zu berühren, gleichzeitig will ich den Kontakt zur Frau nicht ganz verlieren. Jede Bewegung ist schmerzhaft, denn der Vogel lässt mich nicht zu ihr. Ich sehe, wie das schreckliche Tier sich zur Frau herabbeugt und mit hoher, heiserer Stimme Drohungen ausstößt. Meine ach so klugen Worte können sie nicht mehr erreichen. Außerdem habe ich den Verdacht, das Vieh kennt all meine Gedanken schon im Voraus. Wie argwöhnisch es mich betrachtet. Was kann ich tun?

Ich traue mich nicht, mit diesem Tier zu kämpfen, da ich nicht weiß, wie ein Vogelhirn denkt und welche Reaktionen mich erwarten. Getrennt von der kleinen Frau, die, wie ich sehe, ihren Kopf vertrauensvoll an den Flügel des Vogels angelehnt hat, bin ich verunsichert: Will sie ihn besänftigen? Ist sie verliebt in die Angst? Gibt es so etwas?

Welche Möglichkeiten bleiben? Ich könnte versuchen, den Vogel in sein altes Verließ einzusperren, aber ich glaube, er würde mit noch mehr Wut erneut versuchen, sich zu befreien. Wenn ich in seine kraftvollen kalten roten Augen blicke, scheint er mir ausdauernd und zäh, so, als hätte er in der Gefangenschaft all sein Kräfte aufgespart. Irgendwo habe ich gelesen, dass es ein Medikament geben soll, welches den Vogel zähmen könnte. Ich glaube aber, gegen dieses Tier hilft noch kein Kraut der Welt.

Ich weiß nicht, wie lange wir so in Gedanken verloren am Fenster stehen. Ich habe kein Gefühl mehr für Raum und Zeit. Eine Verständigung mit der Frau ist zur Zeit nicht möglich. Ich denke, wir werden warten, bis der Vogel eingeschlafen ist, um dann das Unmögliche zu wagen, um dieser Eishölle zu entgehen.

Wir müssen das immer dünner werdende Eis betreten. Ob es uns hält? Wird es möglich sein, die zu Eis erstarrten Zwänge, die uns Halt geben, auf denen wir uns bewegen, gleichzeitig aufzulösen? Ein gefahrvolles Unternehmen. Aber haben wir denn eine Wahl? Als der Morgen anbricht, machen wir uns auf den Weg.

Aufgetaute Schollen hindern uns beim Laufen und legen sich wie nasse, traurige Tücher um unsere Beine. Wäre es klüger gewesen, vorher ein wenig zu üben, auf dem Eis zu laufen? Hätte es uns geholfen herauszufinden, weshalb die Fluten uns vielleicht überwältigen werden, während wir mit diesem Wissen dann im kalten Wasser schwimmen? Ich weiß es nicht.

Meine besten Jahre mit Verena

Meine besten Jahre mit Verena
Ich wollte alles – und habe weniger denn je!!! 

Hallo, ich bin der Zwang, Verena’s Zwang, um genau zu sein.

Ich lebe seit fast 30 Jahren bei ihr und die längste Zeit davon war ein voller Erfolg für mich: In der Grundschule habe ich schon begonnen, sie zu traktieren, aber das war noch milde, das ist ihr noch gar nicht richtig aufgefallen. Diktate las sie anschließend immer genauestens durch, sollte nur ja kein Fehler mehr darin sein. Da sie immer sehr schnell im Schreiben war, hatte sie genügend Zeit, ihre Sätze mehrmals durchzulesen. Später dann, in der Realschule, da legte ich mich richtig ins Zeug: Da las sie dann schon ihre Hausaufgaben zig-mal durch, verglich oft Buchstabe für Buchstabe; ganz doll war es für mich in den Fremdsprachen, da hatte ich meinen Spaß, denn da verglich und kontrollierte sie noch mehr als z.B. in Deutsch!

Zuhause – damals wohnte sie noch bei ihren Eltern – habe ich sie zu der Zeit noch in Ruhe gelassen. Ob Herd, Bügeleisen oder Türen, das war für sie – noch (!) nichts Besonderes, kein Grund zur Kontrolle, kein Grund zur Sorge… . Aber ich wusste, meine Zeit würde kommen: Nach der Ausbildung zog Verena weg, in eine eigene kleine Wohnung und trat eine Stelle an. Von nun an gab es kein Halten mehr für mich, ich wollte alles haben, kannte kein Maß mehr und es schien auch keines mehr für mich zu geben: Ob es galt, den Herd zu kontrollieren, die Haustüre, irgendwelche Stecker, den Wasserhahn – Verena tat alles für mich und sooft ich es wollte! Wollte sie ihre 2-Zimmer-Wohnung verlassen, so ging das nie unter 1-2 Stunden; und damit nicht genug: War sie endlich draußen, so spukte ich dort sogar oft noch stundenlang in ihrem Kopf – ich wusste ja, wie man sie fertigmachen konnte: Der Herd, ist der Herd wirklich aus, bist Du sicher fragte ich schon, kurz nachdem sie die Haustür hinter sich geschlossen hatte. Und der Wasserhahn, was ist, wenn der noch läuft, wenn Du nicht richtig geschaut hast? Stell’ ihn Dir nochmal genau vor, lief da nicht Wasser?! Das Bügeleisen, steht es tatsächlich im Schrank, ja?! Hatte ich ihr diese Fragen einmal gestellt, so geisterten sie von ganz alleine noch ewig lange in ihrem Kopf herum, ich musste dann gar nichts weiter tun, weidete mich an ihrer Unsicherheit, ihrer Angst, die sich manchmal bis zur Verzweiflung steigerte! Manchen Kinofilm habe ich ihr dadurch verdorben, denn ich wusste, ihre Gedanken waren in ihrer Wohnung statt bei dem Film, den sie eigentlich gerade anschaute. Wenn sie dann nachhause zurückkam, war sie richtig erleichtert, dass „nichts passiert war“, dass das Haus noch stand, unversehrt auch ihre Wohnung – sie konnte es kaum glauben, so hatte ich ihr unterwegs zugesetzt! Ich war gut, ja doch, ich war richtig gut und ich fühlte mich „sauwohl“ bei ihr!

Ich hatte nämlich noch eine zweite „Einnahmequelle“ bei ihr, quasi in Fortführung an Schule und Ausbildung quälte ich sie natürlich auch in ihrem Job und zwar doppelt: Im Büro angekommen dachte sie oft noch die erste Stunde an ihren Herd zuhause, zweifelte, ob er auch aus war – und dass, obwohl sie ihn morgens nie benutzt hatte! Ich konnte wirklich stolz auf mich sein, ich hatte ganze Arbeit geleistet! Gleichzeitig nervte ich sie im Büro nämlich auch schon: jedes Telex, später jeden Fax ließ ich sie Wort für Wort durchlesen, mehrmals und auch danach ließ ich sie nicht zur Ruhe kommen. Hast Du, bist Du sicher, weißt Du auch genau…das waren meine Phrasen, mit der ich ihr immer wieder zielsicher zusetzte. Ich kostete meine Erfolge aus, es machte mir Freude, wenn ich sie am Boden sah. Einen Abend werde ich nie vergessen: Sie hatte innerhalb der Firma einen äußerst wichtigen Brief überbringen müssen, persönlich.  Ehrensache, dass ich sie begleitete! Als sie im richtigen Büro angekommen war, waren da außer dem Empfänger noch zwei weitere Personen anwesend – sie alle kannten Verena und Verena kannte sie und so kamen sie in ein kurzes Gespräch. Verena übergab derweilen das Schreiben an die entsprechende Person und verließ das Büro nach einigen Minuten. Kaum vor der Tür, legte ich auch schon wieder los, schoss mit voller Breitseite: Hast Du auch dem richtigen Mann den Brief übergeben? Verena, Du warst abgelenkt durch die Gespräche, was, wenn Du ihn dem Falschen gegeben hast? Oder, noch schlimmer, wenn Du „irgendeinen“ Brief aus Deinem Büro genommen und abgegeben hast?

Verena hatte den Brief um kurz vor 18h abgegeben, dann noch gearbeitet und war nach 20h zuhause – da hatte ich sie noch immer voll im Griff, sie zermarterte sich ihr Hirn, auf dem Weg zum Bahnhof, im Zug, beim Umsteigen, auf dem Weg nachhause und sogar dort noch, beim Abendessen und anschließenden Zeitung lesen. Zwar war sie daheim, aber „dank“ mir mit all ihren Gedanken noch immer im Büro, kein Feierabend für Verena… . Ich war wie eine Folter im Kopf für sie – fast tat sie mir ein wenig Leid! Aber Mitleid konnte ich mir nicht leisten, schließlich bin ich der Zwang!

Irgendwann wechselte Verena die Stelle und ich hatte beruflich noch leichteres Spiel mit ihr, denn die äußeren Umstände waren hier noch viel günstiger für mich! Ich lebte ein feines Leben, mir ging es gut, ich fühlte mich super – was wollte ich mehr?!

Naja, vielleicht habe ich dann doch übertrieben, irgendwann warf Verena ihren Job hin – was ich niemals gedacht hätte, mit allem hätte ich gerechnet, aber nicht damit! Hm, das fand ich jetzt weniger gut. Hinzu kam, dass sie schon die letzten paar Jahre in ihrer Wohnung wesentlich unabhängiger von mir geworden war, sie ließ sich auch nicht mehr so einschränken wie früher. Da hätte sie z.B. nie einen Föhn benutzt, Haare hatte sie immer abends schon gewaschen und morgens nur noch frisiert; nun aber frühstückte sie sogar daheim, das hieß: Kaffeemaschine benutzen, manchmal sogar Herd (ich konnte es nicht fassen!) und ihre Kontrollgänge hielten sich zeitlich in Grenzen. Und, noch viel schlimmer für mich, wenn sie ihre Wohnung verlassen hatte, hatte ich nichts mehr zu melden! Sie ignorierte meine Warnungen, Fragen, sie schoss sie in den Wind. Kontrollgang ist Kontrollgang und fertig, warf sie mir auf einmal an den Kopf – war das meine nette Verena, die immer alles für mich getan hatte?!

Ich musste etwas tun: Job mäßig ging nichts für mich, aber privat war vielleicht wieder mehr drin, Verena zog nämlich zu ihren Eltern zurück und hatte nun ein komplettes Haus zu kontrollieren, nicht nur zwei Zimmer! Ich gewann wieder „Oberwasser“ bei dem Gedanken. Anfangs schien mir das Glück auch wieder gut gesonnen, sie war abends unsicher, wenn sie ins Bett ging, sah zu, dass sie vor ihren Eltern im Zimmer war, dann brauchte sie sich um nichts zu kümmern. Das waren so die ersten beiden Jahren als sie arbeitslos war; sie absolvierte eine berufliche Weiterbildung – wo ich leider nichts zu melden hatte. Da musste sie auch morgens sehr früh aufstehen, so dass sie abends für ihre Verhältnisse recht früh zu Bett ging und schon von daher keine Kontrollen zu machen brauchte: sie wusste ja, ihre Eltern würden schon die Lichter löschen und einen kurzen Blick auf den Herd werfen – na ja, soooo schön war das auch nicht für mich, ich wusste zwar, sie war total erleichtert, weil „ihr“  Kontrollgang entfiel – von dem sie ja damals genau wusste, dass sie ihn nicht schaffen würde oder nur mit sehr viel Zeit, Mühe und Nerven – aber meinen richtigen Spaß hatte ich damit natürlich nicht.

Aber ich konnte warten! Ich bin der Zwang, nicht irgendwer, ich habe alle Zeit dieser Welt. Und so hoffte ich auf bessere Zeiten, die auch prompt nach Verena’s Weiterbildung für mich kamen: Verena arbeitete jetzt freiberuflich, von zuhause aus. Sie konnte ihre Arbeit einigermaßen frei einteilen wie es ihr beliebte und ging nun abends daher dementsprechend spät zu Bett. Ich triumphierte, meine Zeit war gekommen: Sie war nun eben abends die Letzte, die zu Bett ging und ich machte mir das ungeniert zunutze, zwang sie natürlich zu einem ausgiebigen Kontrollgang – hach, endlich ging es mir wieder gut! Nach 2 Jahren blühte ich wieder voll auf! Ich zog meine sämtlichen Register, malte ihr die schlimmsten Schreckgespenster vor, wenn sie nicht mein ganzes Repertoire an „Kontrollstellen“ würde durchgehen, als da waren u.a.: Türen, Fenster, Rollläden (geschlossen?!), Herd, Wasserkocher, Wasch-/Spülmaschine, Fernseher, sämtliche Lichter (aus?!), Wasserhähne (zugedreht?!) Alleine mit dem Herd konnte ich sie zum Wahnsinn bringen, sie war wütend und verzweifelt zugleich, wenn sie sich nicht von ihm losreißen konnte, bis zu ner halben Stunde davor stand, ihr Verstand ihr sagte, dass der Herd ja aus und damit alles OK sei – ich dann aber quasi dazwischenging, ihr vorgaukelte, das sei nicht nicht genug, sie solle lieber noch mal und noch mal schauen – ich wusste natürlich, je öfter sie schaute, desto unsicherer würde sie werden und rieb mir die Hände über meine „guten“ Gedanken, die ich ihr mit so viel Erfolg „einstreuen“ konnte!

Ganz toll trieb ich es zur Winterzeit bis hinein in die Osterzeit: Da standen nämlich des öfteren auch noch Kerzen herum, die z.T. natürlich benutzt worden waren….Verena, was, wenn die Kerze noch brennt?! Ha, das war fast noch besser als die Sache mit dem Herd….! Solche Fragen brannte ich wieder regelrecht in ihrem Kopf ein, ließ nicht zu, dass sie ihren Verstand normal gebrauchen konnte, sie gaben mir meine Macht zurück! Oft ging sie abends – schon im Bett liegend – noch mal in Gedanken die einzelnen „Kontrollstationen“ durch, zermarterte sich den Kopf wie gehabt und dachte voller Panik, ob auch nur ja alles in Ordnung wäre im Haus; wenn ich großes Glück hatte, stand sie auch schon noch mal auf, um sich über einen gewissen Kontrollpunkt eine letzte (Un-) Sicherheit zu verschaffen; morgens war sie dann erleichtert, dass das Haus noch heil da stand – ich kam endlich wieder voll auf meine Kosten!

Trotzdem sollte ich mich täuschen – aber in meiner Euphorie erkannte ich die Gefahr zunächst nicht, ich war wieder leichtsinnig geworden bei soviel Glück für mich: Kaum merklich, nach und nach, emanzipierte sich Verena wieder, wie ihr das schon einmal in ihrer letzten Wohnung gelungen war; ich war mir ihrer zu sicher und von daher zu sorglos gewesen. Sie brauchte für eine Kontrolle zwar wieder geschlagene zwei Stunden, aber dafür handelte es sich ja auch um ein Haus, nicht nur um zwei Zimmer und schon alleine die Tatsache, dass sie diese Kontrolle überhaupt machte, dass sie sich diesem für sie gewaltigen Problem überhaupt stellte, die hätte mich eigentlich viel früher warnen müssen und sie zeigte mir nun unerwartet plötzlich und deutlich, wohin es für mich ging! Und wenn ich mir neue „Nettigkeiten“ für sie ausdachte, so durchschaute sie mich schnell und schon war ich außen vor: So gaukelte ich ihr u.a. einmal vor, sie müsse das Geschirr besser spülen – das machte sie ein paar Mal dann gründlicher als zuvor, aber nicht lange, dann kehrte sie zu ihrem üblichen Spülen zurück und befand das auch noch völlig in Ordnung!

Und es sollte noch viel schlimmer für mich kommen, meine besten Jahre mit Verena waren nämlich endgültig vorbei:

Eines abends riss mich Verena aus ihren Gedanken, schleuderte mich zu Boden und sagte mir kalt ins Gesicht: Du hässlicher Wicht, nun zeige ich Dir mal, wie man einen Herd kontrolliert (das war ja immer einer ihrer besonderen Schwachpunkte gewesen); diesmal geisterst Du nicht in meinem Kopf herum, sondern stehst neben mir und Du wirst sehen, wie gut das ohne Dich klappt, wie ich das kann, ja kuck´ nur blöd!– Ich muss in der Tat ein recht verdattertes Gesicht gemacht haben, aber wer kann mir das verdenken; nach so vielen gemeinsamen Jahren so eine Behandlung von ihr, das lag außerhalb meines Vorstellungsvermögens, aber absolut. Das Schlimmste war, sie machte das mit der Kontrolle sogar noch recht gut: In ganz „wilden“ Zeiten hatte ich es ja geschafft, sie alleine am Herd ne halbe Stunde stehen zu lassen, wie ich es oben schon beschrieben habe, oft mit einer Mischung aus Wut und Verzweiflung, sie immer wieder von vorne kontrollieren zu lassen – jetzt schaffte sie das schon in gut 10 Minuten – für mich unfassbar und schrecklich!

Es hieß also nun wieder mal handeln für mich, wollte ich nicht total ins Abseits geraten, denn ich verlor ständig weiter an Boden: So war es innerhalb von etwa 2-3 Jahren dann nicht nur so, dass sie ihren Kontrollgang abends auf 30-40 Minuten begrenzen konnte, nein, viel schlimmer war es für mich, dass ich keinen Zugang mehr fand zu ihren Gedanken! Wenn sie ihre Kontrolle beendet hatte, dann war das für sie erledigt, genau wie damals schon in ihrer Wohnung – ich konnte es nicht fassen und wollte mich natürlich auch nicht damit abfinden. Ein Außenstehender mag sich denken, dass es eine lange Zeit ist, einen Kontrollgang in 2-3 Jahren von 2 Stunden auf 30-40 Minuten zu reduzieren – für mich war das aber der Härtefall schlechthin: Seit ihrer Kindheit, seit fast 30 Jahren habe ich Verena begleitet, war immer an ihrer Seite, habe ihr Hunderte meiner Kontrollrituale, -fragen, -gedanken, jede Menge Zweifel mit auf den Weg gegeben, regelrecht in ihre Gedanken gebrannt, ihrem gesunden Menschenverstand – den sie wie jeder andere Mensch auch hat – aufgezwungen, habe ihre Realität verschleiert wie mit einem dicken Nebel, so dass sie mich bezgl. Kontrolle nicht mehr von ihr unterscheiden konnte, ja mich für die Realität gehalten hat!

Für mich war es ein harter Schlag, dass sie mich dermaßen abschüttelte, innerhalb von nur 2-3 Jahren unsere vielen gemeinsamen Jahre quasi wegwarf!

Ich gab natürlich nicht auf, aber heute weiß ich, dass ich damals schon verloren hatte, zumindest auf der privaten Ebene: Auf dem Weg nach oben in ihr Zimmer schlich ich abends hinter ihr her, warf ihr meine üblichen Fragen, Einwände, Zweifel vor – aber da sie mich aus ihren Gedanken herausgerissen hatte, konnte ich das jetzt gewissermaßen nur noch „von außen“ tun und das reichte nicht mehr, ich kam nicht mehr an sie heran! Anfangs war sie wenigstens noch wütend über meine Belästigungen, schnauzte mich an oder packte mich an meinen – zugegebenermaßen nicht sehr schönen – lederartigen Ärmchen und stieß mich auch schon mal ein Stück auf der Treppe zurück. Aber das war nicht mehr meine Verena, das war nicht mehr das, was ich brauchte, was mir unendliche Erfüllung gab! Und sogar das wurde nach und nach weniger: Ich lief ihr wie ein Schatten meiner selbst hinterher, meine Versuche, mich wieder in ihre Gedanken zu schleichen, mich dort einzubrennen hatte ich – wenn ich ehrlich bin – längst aufgegeben. Formhalber begleitete ich sie noch, warf ihr halbherzig einige meiner früheren Manipulationen hin, aber es machte mir keinen Spaß mehr. Mit kalten Augen schaute sie mich an, sagte mir ruhig und bestimmt ins Gesicht, dass sie ihren Kontrollgang gemacht und damit definitiv abgeschlossen hätte; gab sogar zu, dass sie in diesem Moment nicht mal mehr genau wisse, ob auch jede einzelne Herdplatte aus sei z.B:, aber – und das war der absolute Schock für mich – sie hätte es in dem Moment der Kontrolle gewusst, nur das sei entscheidend, sie müsse das nicht stundenlang im Kopf behalten, damit sei „die Sache gelaufen“. Sie hätte jahrelang ihren Verstand in Kontrollangelegenheiten nicht benutzt, hätte mich agieren lassen, aber das sei völlig falsch gewesen und auch nach 30 Jahren sei es für eine Umkehr nicht zu spät! Wenn ich unbedingt wolle, so könne ich gerne bleiben, sie hätte keine Lust, weitere Energie und Zeit an mich zu verschwenden, aber es würde mir wohl kaum noch bei ihr gefallen. Das waren tatsächlich ihre Worte und so bin ich zwar noch immer bei ihr – denn wo soll ich nach 30 Jahren sonst noch hin – aber wirkliche Macht habe ich keine mehr über sie. Im Gegenteil, jetzt ist sie es, die mich fertig macht, die mir durch ihr Ignorieren zeigt, wie unbedeutend ich für sie bin. Wie sagte einmal ein kluger Mensch so schön: Nicht Hass ist das Gegenteil von Liebe, sondern Gleichgültigkeit! Auch wenn sie mich nie geliebt hat: Verena bin ich heute gleichgültig geworden, nein, sie hasst mich nicht einmal mehr. Wenn ich heute bei ihr anklopfe, so sagt sie nur ein jaja, ist gut und im selben Moment hat sie mich schon längst wieder vergessen, hat vergessen, dass es mich gibt. Und das tut mir erst so richtig weh, dass sie noch von meiner Existenz weiß, mich aber eiskalt links liegen lässt, egal, was ich tue!

Vielleicht, vielleicht habe ich ja eine winzig kleine Chance, wenn sie mal wieder regelmäßig arbeitet, also nicht nur so Kleinkram macht – aber irgendwie geht es mir jetzt so wie früher ihr: ich bin mir da nicht sicher, habe meine Zweifel – sollte ich etwa einen „ungebetenen Gast“ bei mir haben?!

Ich wollte alles – und habe weniger denn je!!!

Interview mit einer Ex-Zwangskrankten

Wo ein Wille, da auch ein Weg. Die Zwangsstörung ist besiegbar.

Die junge Frau, die in diesem Gespräch ihren Weg aus der Zwangserkrankung beschreibt, war zu Beginn der Erkrankung 14 Jahre alt. Typischerweise fingen ihre Zwänge mit heftigem Händewaschen an. Im Laufe der Zeit, insgesamt litt sie 10 Jahre unter Zwängen, wandelten sich diese. Sobald sie ihren Waschzwang mithilfe von Medikamenten in den Griff bekam, glitt sie mehr und mehr in magische Gedanken und Handlungen hinein. Diesen war mit den Medikamenten, die ihr bei der Bewältigung ihrer Waschzwänge noch geholfen hatten, nicht mehr beizukommen, weshalb sie sich zu einer Verhaltenstherapie entschloss. Hier lernte sie, die Gedanken, die ihr Unheil verkündeten, wenn sie nicht bestimmte Zwangsrituale durchführte, zu bezwingen. Es schlossen sich dann Gedankenzwänge an, die in Form von stundenlangen Grübeleien auftraten. Der Zwang fand immer wieder einen Weg, sich in ihrer Persönlichkeit seinen Platz zu nehmen. Schließlich schaffte es die junge Frau, mit Verhaltensmethoden, die sie in der Therapie lernte, und mit einem unendlich starken Willen, gesund werden zu wollen, die Zwangserkrankung komplett in den Griff zu bekommen und zu bewältigen

Seit mehr als einem halben Jahr sind keine neuen Zwänge aufgetreten. Für die heute 24jährige Studentin hat nach eigenen Angaben ein neues und befreites Leben begonnen. Sie möchte nun all das nachholen, was ihr zu Zeiten der Zwangserkrankung nicht möglich war. Heute fühlt sie sich frei.

Wann fingen deine Zwänge an?

Ungefähr mit 14 Jahren, 1995, da hat das bei mir so richtig begonnen. Schon als Kind habe ich immer Angst gehabt, Sachen anzufassen.

Was war das für eine Angst?

Angst vor Bakterien und Viren. Ich dachte, dass ich bestimmte Sachen nicht anfassen dürfte. Ständig meinte ich, dreckig zu sein. Dann dachte ich, durch mich könnten andere Leute angesteckt werden. Zwar hatte ich ebenfalls Angst um meine eigene Gesundheit, aber ich fühlte mich mehr noch verantwortlich für das Wohl der Anderen. So mochte ich niemandem mehr die Hand geben, aus Angst, dass ich den Anderen dann infizieren könnte. So habe ich begonnen, bestimmte Sachen wie Türklinken nur noch mit den Ärmeln meines Pullovers oder mit dem Ellenbogen zu berühren. Dennoch fühlte ich mich schmutzig und ich fing an, mir die Hände zu waschen, obwohl ich nichts angefasst hatte.

Anscheinend steigerte sich das Händewaschen dann?

Anfang April 1996 war das, als ich bemerkte, dass ich häufig zum Waschbecken renne und meine Hände gründlich wasche. Die Haut wurde nach und nach ganz rot und rissig. Bei mir ging es nur um die Hände, geduscht habe ich wie andere Leute auch. Also ich musste zu dem Zeitpunkt fast ständig, nachdem ich etwas berührt hatte, was auch andere Menschen anfassen konnten, die Hände waschen. Es ging nicht mehr nur um Türklinken. Vor dem Essen, nach dem Essen, vor dem Ausziehen der Kleidung, nach dem Ausziehen der Kleidung, ging ich zum Waschbecken und hielt meine Hände unters Wasser.

Zusammengerechnet über den Tag wusch ich meine Hände ungefähr drei Stunden lang. Wenn ich mich besonders schmutzig fühlte, dann dauerte ein Waschritual mindestens fünf bis zehn Minuten, ich benutzte viel Seife.

Schließlich war die Haut der Hände aufgesprungen, überall hatte ich blutende Stellen. Meine Hände sahen aus wie fleischige Wunden.

Was sagten denn deine Eltern, bei denen du lebtest, zu deinem Tun?

Meine Eltern beobachteten mein Treiben sehr genau. Anfänglich, als ich nur Angst hatte, etwas zu berühren, meinten sie noch, dass sei ein kindlicher Tick, der von alleine vorüber gehen würde. Aber dann sahen sie, wie oft ich meine Hände wusch, erlebten mit, wie ich immer zurückhaltender und stiller wurde. Meine schulischen Leistungen wurden immer schlechter.

Wenn wir zu Verwandten fahren wollten, oder einfach nur ausgehen, dann fand ich Vorwände, um zuhause bleiben zu dürfen. Sei es, dass ich für die Schule lernen wollte, oder Magenschmerzen hatte, Ausreden erfand ich viele, da war ich sehr kreativ.

Meine Eltern erkannten dann recht schnell, dass ich an einer wirklichen Krankheit litt. Sie sprachen mit mir über Therapiemöglichkeiten, von der medikamentösen Behandlung bis zur Verhaltenstherapie. Anfangs wollte ich nicht zu einem Arzt; ich wollte meine Probleme unbedingt selbst lösen, ohne fremde Hilfe. Außerdem glaubte ich daran, alleine von diesem Tick, so nannte ich diesen Zwang damals, wegzukommen. Meine Eltern haben mir ständig versichert, dass meine Macken mit Verrücktsein nichts zu tun hätten, sondern eine ernst zu nehmende Krankheit sei.

Warum hast du dich dann schließlich doch in ärztliche Behandlung begeben?

Weil sich in der Zwischenzeit, bis ungefähr 1998 hin, dann noch magische Gedanken zu meinen Waschzwängen gesellten. Da ich nicht mehr dauernd die Hände waschen wollte, überlegte ich, was ich stattdessen machen könnte, um mich sicher zu fühlen.

So kam ich zu der Handlung, statt mir die Hände zu waschen, lieber zweimal die Treppe herunter gehen zu müssen.

Die magischen Handlungen waren meine Gegenmaßnahmen gegen die Waschzwänge. Nur nahmen sie dann immer mehr den Raum ein, den ich durch das Vermeiden des Händewaschens einsparen wollte.

Irgendwann hatte ich das Gefühl, 24 Stunden des Tages in Zwangshandlungen eingespannt zu sein. Ich war fix und fertig. In der Schule schrieb ich nur noch fünfen und sechsen. Es war mir nicht mehr möglich, mich auf den Unterricht zu konzentrieren, weil ich dauernd über irgendwelche Zwänge nachdachte. Mich packte auch mehr und mehr die Angst, bei dem ganzen Kram durchzudrehen und wirklich verrückt zu werden. Mir wurde damals klar, dass ich es ohne eine Behandlung nicht schaffe.

Von meinen Freunden hatte ich mich zurückgezogen. Nachts konnte ich nicht mehr schlafen. Wenn ich träumte, dann ging es nur noch ums Waschen.

Also beschloss ich 1998, da war ich bereits drei bis vier Jahre mit der Erkrankung beschäftigt, einen Neurologen aufzusuchen.

Es war eine Frau, die sich mit der Zwangserkrankung halbwegs auskannte. Sie empfahl mir sofort, eine Verhaltenstherapie zu machen. Aber das erschien mir zu aufwändig. So verschrieb sie mir Fluctin.

Hat dir das Medikament geholfen, zwangsfrei zu werden? Wie lange hast du es insgesamt ausschließlich mit Medikamenten versucht, gesund zu werden?

Fast vier Jahre lang. Anfangs hat mir das Fluctin ja auch gut getan. Ich konnte wieder besser schlafen, war nicht mehr so unruhig. Die Dosierung steigerte sich im Laufe der Zeit, irgendwann nahm ich die Höchstdosis.

Andere Leute hätten bei mir keine Fortschritte gesehen, was die Zwänge betrifft. Aber ich selbst konnte die Waschgänge reduzieren, habe zwar immer noch ausführlich meine Hände gewaschen, aber nur noch zu Zeiten, in denen auch gesunde Menschen dieses tun.

Wurden die magischen Gedanken und Handlungen dann auch weniger?

Nein. Keineswegs. Auch meine Kontaminationsängste, die Angst vor Dreck, ist mir geblieben. Deshalb benutzte ich nach wie vor den Pullover, um eine Türklinke herunter zu drücken. Aber hinterher musste ich mir nicht mehr die Hände waschen.

Als die magischen Gedanken und dann Gedankenzwänge stärker wurden, versuchte ich einige andere Antidepressiva, aber außer starken Nebenwirkungen brachten sie keine Linderung.

Was veränderte sich?

Ich musste mehr und mehr die Räume, in denen ich lebte, in Zonen einteilen. Es ist schwierig, einem Außenstehenden davon zu erzählen, das System, welches ich mir selbst erschaffte, war äußerst kompliziert. Zonen waren Raumabschnitte, die ich nicht betreten durfte. Aber auch ein Blatt Papier, welches auf dem Schreibtisch lag, war eine Zone. Jeder Zone durfte ich mich nur von rechts nähern, und nur rechts davon sitzen. In meinem Schlafzimmer, welches 13 qm groß ist, habe ich es schließlich auf 347 Zonen gebracht! Im Nachhinein habe ich mir mal die Mühe gemacht, alle Zonen nachzuzählen und kam dann auf diese große Anzahl.

Es war eine ungeheure Arbeit für mich, in diesen Zonen zu leben und zu arbeiten. Manchmal, wenn ich es mit der Sitzordnung, also nur rechte Seite in der Zone besetzen dürfen, nicht hinbekam, dann kam mein System ins Stocken. Dann benötigte ich einen weiteren Zwang, um mir wieder eine innere Ordnung zu schaffen. Ich musste dann aufstehen und zweimal das Licht anmachen oder zweimal über die Türschwelle treten, um mich sicher zu fühlen.

Solche bescheuerten Sachen kennt wahrscheinlich fast jeder Zwangskranke.

Ein eher seltener Zwang war meine Sorge, dass ich etwas von meiner Person verliere, wenn ich mich aus einem Sessel oder von einem Sofa erhebe. Stand ich von einem Gegenstand auf, bekam ich einfach das Gefühl nicht weg, dass etwas von mir dableiben und verloren gehen würde. Deshalb setzte ich mich dann ein zweites Mal hin, notfalls auch ein drittes, viertes oder fünftes Mal, solange, bis ich endlich sicher war, alles von mir mitzunehmen.

Kannst du genauer erklären, was dir verloren gehen sollte?

Ein Teil meiner Wärme, meiner Persönlichkeit, oder meiner Aura. Ganz schwierig zu definieren.

Wie hast du dich verhalten, wenn du nicht zuhause warst?

Dann war ich äußerst konzentriert und achtete genau darauf, wo ich saß. Ich stand unter großer Anspannung, sowohl psychischer als auch physischer, weil ich alle Muskeln bewusst anspannte, um nichts von mir zu verlieren.

Die Gespräche um mich herum habe ich kaum bemerkt, geschweige denn die Inhalte verstanden.

Was die Kontamination betrifft, so habe ich immer darauf gelauert, dass andere die Tür aufmachen, und ich schnell hindurch schlüpfe.

Wann hast du dich entschlossen, verhaltenstherapeutisch gegen die Zwänge anzugehen?

  1. Zu dem Zeitpunkt half mir Fluctin nicht mehr weiter; und ich konnte das Medikament dann auch in den ersten Monaten meiner Verhaltenstherapie, nach Absprache mit der mich behandelnden Neurologin, problemlos absetzen.

Als erstes hatte ich ein total schlechtes Abitur gemacht, da ich kaum Zeit hatte, für die einzelnen Fächer zu lernen. Ich war stinksauer auf mich.

Denn im Grunde wusste ich schon, als ich zu der Neurologin ging, dass das, was ich da den ganzen Tag machte, total bescheuert und unsinnig war. Andere Leute, die ich beobachtete, machten solche Sachen ja auch nicht. Früher hatte ich diesen ganzen Kram auch nicht gebraucht. Und trotzdem war es mir nicht möglich, aufzuhören. Mein Gefühl wollte einfach, dass ich weiter machte.

Ich wollte studieren, wollte weg in eine andere Stadt ziehen, war aber durch meine Zwänge total unfähig, irgendetwas eigenständig zu entscheiden.

Zum Glück reichte es aber gerade noch dazu, einen Verhaltenstherapeuten aufzusuchen.

Wie sah die Therapie bei dir aus?

Nun, der Verhaltenstherapeut hat sich zuerst intensiv meine Geschichte angehört. Dann habe ich recht schnell mit „Brainy“ zu arbeiten angefangen. Zuerst habe ich mir Zeiten gestellt, in denen meine Zwangsrituale von mir beendet sein mussten. Die Zeit habe ich dann immer kürzer gestellt. Das klappte anfänglich ganz gut, ich merkte aber auch, dass ich statt der Zwänge, die ich unterlassen hatte, andere ausgeführt hatte. Außerdem war ich ja durch die Übungen am Rechner an den einen Raum im Haus gebunden.

Deshalb habe ich für mich „Brainy“ weiterentwickelt. Ich war da genauso kreativ wie im Erdenken neuer Zwänge. Im Grunde habe ich mir selbst einen ständigen Gegendruck erzeugt, dem ich den Druck des Ausführenmüssens meiner Zwänge entgegen stemmen kann.

Ob das blöd aussah, was ich da machte, interessierte mich wenig, die Hauptsache war für mich, meine Zwänge, die mich unendlich wütend machten, in den Griff zu kriegen.

Wie sah diese Weiterentwicklung von „Brainy“ aus?

Brainy gab mir vor, wie lange ich aushalten musste, um keine Zwangshandlung auszuführen. Da ich mobiler werden wollte, also mich im ganzen Haus mit dieser Brainy-Methode konfrontieren wollte, habe ich statt Brainy eine Eieruhr genommen.

Äh, Eieruhr? Was hast du damit gemacht?

Sie mit mir herum geschleppt und Zeiten gestellt, in denen ich nur links durch eine Zone gehen durfte. So seltsam das auch klingen mag.

Wichtig fand ich zu dem Zeitpunkt, ganz kleine Zeitintervalle einzustellen, so etwa eine halbe Minute, in der ich mich dem Zwang widersetzen konnte. Bis zum Piepen der Eieruhr ging ich nur links durch meine Zonen.

Was für Gefühle hattest du, wenn du so gegen die Regeln des Zwangs verstoßen hast?

Oh, ich empfand einen mich fast wahnsinnig machenden Druck, nach rechts in die vorgeschriebene Richtung des Zwangs weichen zu müssen, und ich wartete voller Anspannung auf die Eieruhr. Manchmal, wenn ich merkte, wie schwach ich gegen die Anforderungen meines Zwangs war, habe ich Zeitintervalle von fünf Sekunden genommen, die ich durchhalten musste.

Ich schaffte es immer, mich an die Vorgaben der Zeitintervalle zu halten, was mich mit Stolz und Genugtuung erfüllte.

Nach ca. drei Monaten konnte ich mir bereits Zeitspannen von zehn Minuten nehmen, in denen ich es aushielt, von den Regeln des Zwangs abzuweichen. Obwohl ich besser zurecht kam, war es auch nach dieser langen Übungszeit noch schwierig, nicht nach sechs oder sieben Minuten den ganzen Kram aufzugeben, und die letzten drei bis vier Minuten zogen sich unendlich lange hin.

Aber da ich den festen Willen hatte, gesund zu werden, musste ich durch diese Plackerei hindurch!

Hat sich was durch diese Übungen verändert?

Ja, es war mir möglich, während ich vor dem Rechner saß und für mein Studium arbeitete, nicht mehr darauf zu achten, wie meine Schreibutensilien auf dem Schreibtisch angeordnet waren. Auch konnte ich meine Sachen „blind“ ablegen, also ohne mich vergewissern zu müssen, ob die Ordnung des Zwangs eingehalten wurde. Es gelang mir, mich auf meine Hausarbeiten zu konzentrieren.

Hat dein Therapeut dich bei deinen Übungen begleitet?

Hätte er gerne, aber das Gemeine an meinem Zwang war, dass sobald ich in der Praxis des Therapeuten saß, oder während ich mit ihm sprach, bei mir keine Zwänge vorhanden waren. Es störte mich keineswegs, wie es bei ihm auf dem Schreibtisch oder im Büro aussah, das war mir dann alles egal. Ich hatte auch nicht mehr den Drang, meine Sachen rechts von mir ablegen zu müssen. Da war nichts.

Deshalb konnte ich es nur so machen, dass ich meine Expositionen alleine durchführte.

Noch einmal zurück zur Übung mit der Eieruhr? Wie lange hast du insgesamt damit geübt, und was hat sich dadurch bei dir verändert?

Geübt habe ich damit ungefähr drei bis vier Monate, jeden Tag um die 20 Minuten, je nachdem, wie viel Zeit ich hatte. Die magischen Zwänge verschwanden, und die Kontaminationszwänge waren auch vorbei.

Dann warst du also geheilt?

Nein. Der Zwang zeigte sich dann bei mir in einer anderen Form. Er versucht es ja immer wieder, seine Bedeutung zu behalten. Ich kam dann in ganz heftige Gedankenzwänge. Ausgerechnet mein Therapeut, mit dem ich über meine bisherigen Übungen gesprochen hatte, sagte mir in einer Sitzung einen Satz, der mich dann nicht mehr verließ.

Wir hatten darüber gesprochen, dass nicht ich es sei, die diese ganzen Zwangsrituale ausführen wolle, sondern dass ich durch meinen Zwang fremdbestimmt würde.

Dieser Satz, den ich mir einprägte, nämlich „Das bist nicht du, das ist dein Zwang“, der ratterte mir dann stundenlang im Kopf herum. Wie eine Dauerspirale, oder wie ein Tinnitus, der einem ständig im Ohr brummt, hatte ich mit diesem Gedanken zu kämpfen.

Also eine Verschiebung von einem Zwang zu einem anderen?

Ja, jetzt wurden es Gedankenzwänge, die mich stundenlang grübeln ließen. Zusätzlich zu dem obigen Zwang musste ich ständig über Ereignisse grübeln, die in der Vergangenheit lagen, und bei denen ich abchecken musste, ob ich was Falsches gesagt oder getan haben könnte.

Beispiel: Wir nahmen im Studium die Märchen der Brüder Grimm durch. Da ging es auch um eine Aussage eines der Brüder Grimm zu einem seiner Märchen, welche mir nicht passte. Ich hatte diesbezüglich gedacht „So kann er das doch nicht sagen, ich sehe das anders.“. Daraufhin musste ich wochenlang darüber nachdenken, wieso ich mir anmaßen wollte, einen Gelehrten wie den Grimm bezweifeln zu wollen. Ich hatte richtiggehend Schuldgefühle. Ich kam mir sehr vermessen und arrogant vor. Mein Gewissen meldete sich dauernd mit Sätzen wie „So was darfst du doch nicht denken! So was kannst du doch nicht machen.“

Über Wochen war ich mit mir selbst in einem schweren Konflikt. Ich wollte meine Worte nicht mehr denken, aber sie ließen sich nicht aufhalten.

Warst du verzweifelt? Was waren deine Gefühle in diesen Wochen?

Ich dachte, für immer in dieser Gedankenspirale festzustecken. War ein Konflikt vorüber, kam der nächste. Dann kam mir ein Ereignis, welches vielleicht zwei Wochen zurück lag, in den Kopf, worüber ich dann zu grübeln begann. Schließlich meine Zweifel, ob ich zu hart oder fordernd gewesen sei. So hatte ich meiner Schwester, mit der ich vor dem Fernseher saß, gesagt, sie solle diesen lauter stellen. Sofort begann ich hinterher zu überlegen, wie mein Satz wohl auf sie gewirkt haben könnte, ob ich faul sei, weil ich nicht selbst aufgestanden sei usw.

Komisch fand ich, dass ich, je länger ich in diesem Grübeln war, immer mehr von früher erinnerte, immer länger und immer mehr Themen im Kopf behielt. Es war, als würde er sich voll saugen mit Zwangsgedanken.

Manchmal saß ich in einem Raum, wollte mich nur kurz hinsetzen und stellte dann irgendwann, wenn ich sozusagen aufwachte, ganz entsetzt fest, dass ich drei Stunden gesessen hatte, ohne zu merken, wie die Zeit vergeht, einfach nur mit überflüssigen Grübeleien beschäftigt.

Wie lange dauerte da deine Therapie bereits an?

Ca. zwei Jahre. Es plätscherte so vor sich hin. Im Grunde war ich zutiefst unglücklich, weil ich kein Ende dieser ganzen Qualen sah. Nie war ich unselbstständiger und immobiler gewesen als zu dieser Zeit.

Aber anscheinend hast du nicht aufgegeben? Wie kamst du zu deinen nächsten Schritten? Was war deine Motivation?

Erstens schrieb ich ziemlich schlechte Noten in meinen Studienarbeiten. Ich hatte mich isoliert und war oft allein. Im Hinterkopf hatte ich aber immer noch meinen Plan, endlich von zuhause auszuziehen und meinen Hobbys nachzugehen.

Ich hatte mir doch vorgenommen, frei sein zu wollen!

So war da eine Riesenwut in mir, zum Glück aber dieses Mal nicht auf mich selbst, sondern auf die Zwänge und auf die ganze Situation.

Was mir zu dem Zeitpunkt immer wieder in den Kopf kam, war meine Feststellung, dass ich es geschafft hatte, die magischen Zwänge wegzuarbeiten. Das war für mich ein Rettungsanker, diese Gewissheit zu verspüren, dass wenn ich mir etwas ganz fest vornehme, es dann auch schaffen zu können.

Die Hoffnung auf Gesundung hat mich, trotz Verzweiflung und Wut, niemals verlassen.

Heute im Rückblick stelle ich fest, dass es Zeiten gab, in denen ich kämpfen konnte, weil ich die Kraft dazu hatte. Dann gab es aber auch Tage und Wochen, wo mir der Mut zum Durchhalten fehlte, sodass ich warten musste, bis ich weitermachen konnte.

Das war ja aber ein Erfolg, nicht mehr auf dich selbst, sondern wütend auf den Zwang zu sein?

Ja, dass hat mir für mich Erleichterung verschafft. Wenn ich auf meine bisherige Situation blickte, so konnte ich mir sehr rational sagen, dass ich mein Leben bisher nicht wirklich gelebt hatte, aber dass ich darüber nicht jammern, sondern nach vorne blicken sollte.

Da waren Sätze wie „Mache jetzt einen Schnitt. Fange endlich an, das zu tun, was du immer tun wolltest“ in mir, die mich voran getrieben haben.

Du wolltest dir also deine selbst gesetzten Ziele nicht durch die Zwänge kaputt machen lassen?

Richtig. Es war dann die Wut, so nicht weitermachen zu können, die meine Grübeleien manchmal unterbrach.

In meiner Wut bemerkte ich eher, wann ich grübelte, sodass ich mich stoppen und was anderes machen konnte.

Wie das?

Wenn ich nach einer Weile der Grübeleien merkte, dass ich ein Gefühl von Aggression in mir spürte, dann konnte ich darüber nachdenken, was ich gedacht hatte. Wenn es wieder Zwangsgedanken gewesen waren, sagte ich mir „Gut, ist nun mal wieder passiert. Die Zeit, die ich jetzt vergrübelt habe, ist verloren. Jetzt unterbreche ich diesen Gedankenkreislauf aber. Hier ist der Schnitt. Beim nächsten Mal werde ich mehr auf mich und meine Gedanken achten.

Wie hast du dich abgelenkt, um nicht wieder zu grübeln anzufangen?

Och, über ganz banale Sachen nachgedacht, wie zum Beispiel darüber, was es für ein Mittagessen gibt, oder habe mir eine Illustrierte zur Hand genommen.

Und das klappte?

Anfangs nur ganz schwer. Meine Gedanken wanderten immer wieder zum Zwangsgedanken zurück. Ich habe dann immer versucht, sofort an etwas anderes zu denken bzw. mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Bei einem solchen „Kampf“ ging es teilweise 30 bis 40 x hin und her zwischen den Gedanken und den Ablenkungen. Sowas konnte stundelang dauern. Nachher war ich körperlich kaputt, soviel Anstrengung hat es mich gekostet. Manchmal wollte ich auch aufgeben.

Aber dann hat mich nochmals eine riesige Wut gepackt, endlich die Zwangserkrankung komplett zu beenden. Im Juli 2004 war das. Ich hatte Semesterferien, viel Zeit und das Gefühl, dass etwas passieren muss. Dass dieser Stillstand in meinem Leben beendet werden muss.

Von einem Moment auf den anderen hatte ich die Idee, so zu verfahren wie ich es mit Brainy gelernt hatte. Aber in der Richtung, dass mir diese Methode helfen sollte, mich daran zu erinnern, ob ich konkret denke oder in Zwangsgrübeleien verstrickt bin.

Jetzt wird es spannend! Was hast du dir da überlegt?

Ich begann, das ganze Haus komplett mit Denk-Zetteln zu markieren, damit ich ständig und überall daran erinnert werde, nicht in Grübeleien zu verfallen.

Da ich wusste, wie schnell auch dieses Markieren in Zwanghaftigheit ausarten kann, besorgte ich mir bunte Notizzettelchen. Darauf malte ich entweder ein Ausrufe- oder Fragezeichen, entwarf Smileys und andere Symbole. Ich achtete auf Unterschiedlichkeit, es sollte keine Gewöhnung aufkommen.

Also nahm ich auch noch die Eieruhr zur Hilfe, dann auch noch den Wecker. Beide wurden auf unterschiedliche Zeitintervalle eingestellt. Mal klingelte die Eieruhr nach zwei Minuten, dann der Wecker nach einer halben Stunde.

Schließlich nahm ich noch die Zeitschaltung für die Lichter in unserem Haus mit in meine Übung hinein. Es ging mir dann sozusagen in bestimmten Zeitabschnitten ein Licht auf, was mich darauf aufmerksam machte, nachzuprüfen, ob ich grübelte oder konkret gedanklich beschäftigt war.

Wie lange hast du diese heftige Übung durchgeführt?

Sechs Wochen lang, es war wirklich ein Powertraining. Ich hatte Glück, Semesterferien zu haben, sonst wäre das nicht möglich gewesen. Sechs Wochen lang habe ich jeden Tag mithilfe der vielen Zettel, alleine in meinem Zimmer hingen 40 Stück (um jeden Stift war ein Zettel geklebt), Wecker, Uhren und Lichter, viele nützliche kleine Werkzeuge gegen meine Gedankenzwänge gehabt. Ging ich durchs Haus, hingen am Treppengeländer  Zettelchen mit Ausrufezeichen, oder im Wohnzimmer klingelte der Wecker, wodurch ich dann in meinem Tun inne hielt und mich auf Zwangsgedanken überprüfte. Sechs Wochen lang habe ich gebraucht, um mir meine Zwangsgedanken regelrecht abzugewöhnen. Als Kind hatte ich den Tick, nach jedem Satz einmal kurz zu hauchen. Als ich es bemerkte, nahm ich mir vor, darauf zu achten und es sein zu lassen. Das klappte. Gerade diese kleine Übung, die ich als Kind schaffen konnte, gab mir eine Vorstellung davon, wie ich es auch schaffen könnte, mir die Zwangsgedanken abzutrainieren.

Zwangsgedanken also in Form von Grübeleien, das Richtige gesagt oder gedacht zu haben?

Ja genau. Zweifel und Grübeleien. Am PC hing ein Zettel, ich schaute darauf und stoppte in dem, was ich gerade tat. Dann checkte ich meinen momentanen Gedankeninhalt, die Dauer der Gedanken, die Realitätsnähe der Gedanken. Entweder merkte ich, wieder zwanghaft gegrübelt oder gezweifelt zu haben.

Aber nach einer Weile konnte ich besser unterscheiden, was zwanghaft war oder nicht. Ich wurde auch sicherer im Umgang mit meinen Gedanken, weil ich mir dachte, dass andere Menschen genauso dachten wie ich. Ich verglich mich häufig mit Gesunden.

Dann überlegte ich jetzt auch, aber mit mehr Klarheit und Ruhe, wie die Menschen auf das, was ich gesagt hatte, reagiert hatten. Entweder hatten sie überhaupt nicht reagiert oder waren freundlich gewesen. Jedenfalls sah ich nichts Beunruhigendes in meinem Verhalten

Es kam mir vor, als würde ich die Realität jetzt wichtiger nehmen können.

Nach sechs Wochen, es war Ende August 2004, waren die Gedankenzwänge weg.

Gleichzeitig verließ mich mein unsicheres Gefühl, etwas von mir verloren zu haben, wenn ich mich von einer Sitzgelegenheit erhob. Dabei hatte ich dagegen nicht direkt angekämpft. Aber ich merkte schon, als ich noch mit meinen Gegenmaßnahmen gegen die Grübeleien beschäftigt war, dass dieses Gefühl schwächer wurde. Ich verbot mir auch, da ich die Zettel als ständige Ermahnungen vor mir hatte, über das ungute Gefühl, welches ich bisher beim Aufstehen gehabt hatte, nachzudenken.

Wirklich komplett weg? Du brauchst nichts mehr dagegen tun?

Nein. Die Übung mit meinen vielen kleinen Helfern ließ ich dann mehr und mehr weg. Nach drei Monaten, im Oktober 2004, war ich komplett zwangsfrei. Seitdem habe ich auch keinen Zwang mehr gehabt.

Ist jetzt etwas an dir selbst oder in dir selbst anders?

Heute bin ich ein anderer Mensch. Am Anfang war es ein komisches Gefühl, ohne Zwänge zu sein. Auf einmal hatte ich auch soviel Zeit. Aber nach und nach füllte sich mein Leben mit normalen Problemen. Es ist ja nicht so, dass ich jetzt nur noch glücklich und zufrieden bin. Da gibt es Streit mit einem Professor, Probleme mit der Familie. Aber diese Schwierigkeiten haben eine andere, viel höherwertige Qualität als die, die ich während der Zwangserkrankung hatte.

Die Zwangserkrankung löst nichts mehr an Gefühlen in mir aus. Sie ist weg. Ende des letzten Jahres hatte ich eine Art von Erinnerung an den Zwang, oder besser gesagt, ich bekam eine Idee davon, wie ein Zwang entsteht. Da sah ich einen Zettel auf meinem Schreibtisch, der nicht gerade lag. Da kam mir blitzartig der Gedanke, dass ich ihn früher gerade gerückt hätte, um mich besser zu fühlen. Aber das Bedürfnis, irgendetwas in dieser Richtung dann konkret zu tun, die hatte ich nicht mehr. Dann war der Gedanke vorüber und kam auch nicht mehr zurück. Was ich spürte, war etwas wie ein Erstaunen über dieses bereits mir fremd gewordene Denken. Ich begriff nicht mehr, wieso ich zu einer anderen Zeit so anders und fremd gedacht hatte. Ich erzähle dir heute von dieser Zeit der Erkrankung wie von einem Urlaub. Der hallt auch nicht ewig lange nach, und das spezielle Urlaubsgefühl klingt irgendwann ganz ab. Damit meine ich, dass dieses Thema nicht mehr mit Emotionen besetzt ist.

Fühlst du dich heute selbstsicherer? Oder freier?

Ja, selbstsicherer und gelassener. Wie schon oben weiter erwähnt, habe ich weiterhin Probleme, reale Schwierigkeiten, die ich bewältigen muss. Mein Selbstbewusstsein resultiert wohl aus dem Stolz, vor allem mit eigener Willenskraft und Kreativität die Zwangserkrankung besiegt zu haben. Die Probleme, die ich jetzt habe, zum Beispiel die oben erwähnten Streitereien mit meinem Professor, die gehe ich mit großer Gelassenheit an. Ich habe in mir die Gewissheit, etwas weit Komplexeres und Schwereres bewältigt zu haben. Das relativiert dann meine Angelegenheiten und gibt mir Kraft und Mut, mich an die tatsächlichen Schwierigkeiten heran zu begeben.

Ich bin bereit, mich für mich und mein Leben einzusetzen, wie ich es im „Kampf“ gegen die Zwangsstörung gemacht habe.

Ob sie mich je wieder angreifen kann, weiß ich nicht. Was ich aber weiß ist die Tatsache, dass sie besiegbar ist. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich selbst habe es geschafft!

Meine kleine heile Welt

Ich erwache an einem Sommermorgen. Die Sonne scheint durch das geöffnete Fenster. Ich höre das Meer rauschen und öffne die Augen. Mein Freund liegt neben mir. Er schläft noch. Ich betrachte ihn eine Weile und ich muss nicht daran denken, dass ich befürchtete, nie neben ihm einschlafen zu können. Ich denke nicht darüber nach, dass ich Angst davor habe, jemanden in mein Bett zu lassen, weil es doch sauber sein muss.

Ich stehe auf und gehe nach unten. Mein Kopf tut mir an diesem Morgen nicht weh. Ich denke nicht über meinen Tag nach. Ich mache mir keine Sorgen um dass, was ich schaffen muss und dass, was dazwischen kommen könnte.

Ich gehe ins Bad. Den drang, mich wie jeden Morgen zu wiegen, verspüre ich dieses Mal nicht. Meine Hände wasche ich nur einmal mit klarem Wasser ohne Seife, ohne mir Sorgen zu machen, sie könnten schmutzig sein. Die Haut meiner Hände ist glatt. Ich denke nicht daran, wie sie früher war – rauh und aufgesprungen.

Ich gehe in die Küche, um etwas zu essen. Doch an diesem Morgen schenke ich dem Herd keine Beachtung. Ich denke nicht daran, wie ich dauernd auf die Schalter geschaut habe, ob sie auch wirklich aus sind.

Nachdem ich mich umgezogen habe, verlasse ich das Haus. Ich brauche dafür nicht lange, weil ich weiß, dass ich meine Kleider anhabe und die Haustür geschlossen ist.

Mein Weg führt mich zu den Dünen. Der Strandhafer bewegt sich im Wind hin und her. Ich breite meine Hände über den Spitzen der Gräser aus und schaue zum Himmel hinauf. Ich beobachte, wie die Wolken ziehen und denke nicht daran, wie ich es im Fernsehen und auf Bildern gesehen und mir gewünscht habe, dort zu sein.

Ich gehe weiter – herunter zum Strand. Dort stehe ich eine Weile und schaue auf das Meer. Das Sonnenlicht spiegelt sich auf dem Wasser und ich höre die Rufe der Möwen über mir. Mein Freund tritt hinter mich und legt seine Arme um meinen Körper. Diesmal ist es nicht unangenehm und ich versuche nicht, mich dagegen zu wehren, weil ich befürchte, nicht damit umgehen zu können.

Er küsst mich auf die Stirn und lässt mich wieder alleine. Ich setze mich auf den Boden und fahre mit den Fingern durch den Sand. Ich höre ein Auto und schaue mich um. Meine Eltern steigen aus, winken mir zu und gehen ins Haus. Ich mache mir keine Sorgen darum, dass jemand meine Wohnung betritt, weil ich weiß, dass sie trotzdem sauber und ordentlich bleibt und ich anschließend nicht meine Zeit verschwenden muss.

Ich höre das Klappern einer Hundemarke. Ich schaue neben mich und sehe meinen Hund, der sich auf die Decke legt. Ich lege mich neben ihn und drücke mein Gesicht in sein Fell. Ich atme tief ein und vernehme den Geruch meines Vaters, der den Kleinen wohl wieder zu lange auf dem Arm hatte. Ich küsse ihn auf die Wange und denke nicht darüber nach, wie er damals vor meinen Augen gestorben ist. Und wie ich jedes Mal, wenn ich an ihn denke, schnell meine Augen schließe, um die Tränen zurückzuhalten. Ich stelle mir nicht die Frage, ob er mich wirklich lieb gehabt hat, so wie es mir mein Vater versichert.

Wie immer sind meine Ärmel nass, mit denen ich die Tränen wegwische, als ich nachts wach in meinem Bett liege und über all das nachdenke. Ich wünschte, es wäre so gekommen, doch so ist es nicht. Und das meiste wird wohl auch nie so sein.

Als ich am Morgen erwache, bin ich noch immer müde und mein Kopf tut mir weh. Ich höre die Regentropfen an meinem Fenster und das Rauschen der Blätter in den Bäumen. Mein Vater kommt herein und küsst mich auf die Wange. Ich stehe auf, wiege mich und muss darauf achten, meine Hände nicht so oft mit Seife zu waschen, weil meine Haut schon wieder so trocken ist.

Ich schaue aus dem Fenster. Es hat aufgehört zu regnen und die Sonne scheint. Ich beschließe, heute nur wenig sauber zu machen und nicht so viel vorauszuplanen.

Ich schalte die Stereoanlage ein und höre von einem mir sehr wichtigen Menschen die Worte: „Es wird alles ´mal vorübergehen!“