(von Schean)

Das Mädchen war oft gefallen. Auf den Boden, sich die Knie aufschlagend, oder die Ellenbogen, blutend. Geweint, geweint hatte das Mädchen sicher und dass man sie in den Arm genommen hat ist ebenso wahrscheinlich, wie die Annahme, dass wilde Ermahnungen auf sie einher rieselten, vielleicht sogar, für das Mädchen und selbst alle Beteiligten unbegründet erscheinender, Zorn. Pass auf. Sei nicht so patschert.

Später, und daran erinnert sich das Mädchen noch, ist nicht mehr sie gefallen, ein Glas, oder ein Teller, zerbrochen, am Boden. Die Schuld ging ihr durch und durch, der Glaube, unfähig und dumm zu sein, schlich sich schon damals, vorsichtig, in ihren Kopf. Das Mädchen saß oft im Gras. Grünes Gras. Rauschender Wind. Bienen, kleine große, von Blüte zu Blüte und bunte Falter, die sie aber nicht mochte. Die Falter nahm sie stets wahr, sie zuckte zusammen, sprang auf und lief weg. Fort, nur fort.

Vielleicht quälte sie die Erinnerung an das Marmeladeglas am Dachboden. Das Marmeladeglas der Oma, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Herbst für Herbst, Schmetterlinge zu fangen, im Glas zu halten um ihnen damit das Überleben zu sichern, den nächsten Frühling. Dass die Flügel des Tieres so zerbrechlich waren und Berührungen nicht gut vertragen konnten, das alles war der Oma fremd, sie freute sich über das bunte Tier, dem sie helfen wollte und dem Mädchen graute.

War da kein Falter, so starrte das Mädchen ins Grün. Sie mochte das Grün, mochte die sanften Bewegungen der Gräser im Wind und nahm sie doch meist, anders als die Schmetterlinge, nicht wahr.

Das Mädchen träumte.

Manchmal träumte das Mädchen ein anderes Wesen zu sein, ein Zwerg vielleicht, dem das Gras dann wie ein Wald erschiene, oder eine wunderbar schöne Prinzessin, errettet aus einem Hohen Turme, von einem Prinzen vielleicht.

Meist aber hielt sich das Mädchen in der Zukunft auf.

In zehn Jahren, so dachte sie, wäre sie so schön, wie die Mädchen auf den Plakaten, oder die großen Mädchen in der Schule. Sie wäre dann bestimmt sehr gescheit, wüsste bescheid über das Leben. Sie könnte dann leben.

Jetzt noch, da fürchtete sich das Mädchen, da hatte sie Angst. Manchmal, da lag sie nachts wach und hatte sich gerade davor den ganzen Tag gefürchtet, hatte angestrengt gedacht und zu Gott gebetet, er möge sie doch nachts schlafen lassen. Meist aber betete sie zu Gott um ihn zu bitten ihr die leidige Sache, das Essen, zu erleichtern. Sie betete stets dieselben Gebete in gleicher Reihenfolge, drei mal drei, das müsste sich gut auswirken, so dachte sie.

Drei mal drei.

Dann saß sie am Tisch und wartete auf das Wunder, das nie eintraf. Schluckte schwer. Und nachts betete sie wieder. Drei mal Drei. In zehn Jahren also, da wäre das sicher anders. Niemand mehr würde sagen – mein Gott bist du dünn – oder – iss mehr, bitte, iss mehr – und schlafen, das könnte sie auch. Auf einer schönen Bettwäsche würde sie schlafen, vielleicht mit Blumen drauf, oder bunten Strichen.

In zehn Jahren, da täte sie das, was sie jetzt nicht tat, hätte sie viele liebe Freundinnen, vielleicht käme dann sogar ein Junge um sie zu küssen, vielleicht. Aber Angst, die hätte sie nicht mehr.

In zehn Jahren, da wäre jede Angst gewichen, dann könnte sie leben. Ihr Leben leben.

Das Mädchen war immer schon schwierig, immer musste man mit ihr zum Arzt, denn stets tat ihr sämtliches weh. Einatmen und Ausatmen. Abtasten. Mund auf, Zunge flach legen, „ah“ sagen.

Der Doktor war meist zufrieden, sagte es gäbe da nichts, äußerte nur ruhig, das Kind wolle wohl mehr an Aufmerksamkeit haben, wäre ein bisschen trotzig, man solle sich nicht sorgen. Viele Kinder waren doch so. Sehr viele.

Die Mutter lächelte und zwang sich zuversichtlich zu sein. Ein Arzt hat Recht, muss Recht haben. Das Mädchen wurde sicher zu sehr verwöhnt, war das erste Kleinkind seit langen und alle erfreuten sich ihrer. Sie solle sich also bitte zusammenreißen, solle keine Probleme machen, war doch schon groß. Um Himmels Willen.

Das Mädchen spielte gern. Mit Puppen und Autos, mit Äpfeln und Gräsern, Doktor und Geschäft.

Und dann träumte sie sich doch wieder weg. Und ihn ihren Träumen begegnete sie kühnen Helden, ja, war selbst einer, eine Heldin war sie, wunderschön. Fehlerlos. Da fühlte sie keine Schuld, kein Versagen.

Und dann dachte sie wieder an die Zukunft und wusste – in zehn Jahren da würde alles besser.

Zehn Jahre noch bis zum Leben.