(von Hidaya)

Was ist los mit der kleinen Frau

Ich beobachte sie schon seit langer Zeit, wie sie voller Hast und Unruhe eine Vielzahl von Dingen kontrolliert. Immer wieder muss sie, wie aus einem inneren Zwang heraus ständig den Gasherd kontrollieren, ob er auch wirklich aus ist?

Der Blickkontakt alleine reicht schon lange nicht mehr. Nein. Sie ist gezwungen, die Gasknöpfe mit den Fingern zu berühren, dann mit verschränkten Händen auf den Rücken so weit Abstand zu halten, dass sie an die mögliche Gefahrenquelle nicht mehr heranreicht…

Während sie laut zählt, dass selbst die Ohren es hören können, stampft sie gleichzeitig mit dem Fuß. Ein abschließender Blick kann, wenn er nur ein wenig abgelenkt ist von anderen Dingen, den Zweifel erneut hervorbringen. Früh am Morgen, wenn der Schlaf noch in ihr ist, muss sie besonders wachsam sein. Da sie weder ihren Ohren, noch ihren Augen, weder ihren Händen, noch

ihrer Stimme alleine glauben kann, ein Restzweifel die Kontrolle immer noch verstärkt, ist sie mitunter gezwungen, dies Ritual unendlich viele Male zu wiederholen.

Wenn ich sie so in ihren Verrenkungen betrachte, wo der Körper fast zu sprechen scheint, frage ich mich, ob es möglich ist, dass sie wie ein kleines Kind immer noch daran glaubt, Gedanken könnten Dinge berühren, ein magischer Blick allein schon etwas Unvorstellbares auslösen könnte, wofür man ihr dann möglicherweise die Schuld geben würde.

Woher nur diese grenzenlose Angst, die fliegt, fast wie ein Vogel von einem Gegenstand zum anderen? Ob es um die Lampe geht, die aus ist. Ja sie ist aus. Das Bügeleisen, was sicherheitshalber zur Beobachtung auf den Flur gestellt werden muss, weit entfernt von der Steckdose, wobei der Stecker noch einmal mit der vorher abgetrockneten Hand berührt werden muss, ob er nicht doch heiß ist. Nein, es ist alles in Ordnung. Ich frage mich: Weshalb hat diese Frau nur kein Vertrauen zu sich selbst und warum vertaubt sie ihre Sinne so? So sehr ich mich auch bemühe, ich kann ihr Verhalten einfach nicht verstehen. Gern hätte ich ihr unsinniges Verhalten weiterhin aus der Distanz heraus beobachtet.

Was mich aber bei der ganzen Sache beunruhigt, ist, dass sie mir merkwürdig vertraut vorkommt. Manchmal scheint es mir, als würd ich sie schon ewig kennen. Mehrmals habe ich versucht, sie anzusprechen, um sie nach der Ursache ihres eigenartigen Verhaltens zu befragen, aber ich erreiche sie nie. Ständig weicht sie mir aus. Wahrscheinlich will sie nicht von alten Dingen sprechen.

Ich erinnere mich: Damals war es die Tür, die immer abgeschlossen sein musste. Mit fast ohnmächtiger Wut wurde der Griff der Tür fast herausgerissen, damit ja keiner nachts in die Wohnung eindringen konnte. Später habe ich mich gewundert, dass sie nicht verschlossen war und ich mitten in der Nacht das Haus betreten habe. Ich habe sie gefragt, ob damals, als sie noch ein Kind war, jemand nachts ins Zimmer eingedrungen sei während sie schlief, und sie dann einen irren Schrecken bekam, der sie nie mehr verließ, aber sie erinnert sich nicht mehr, wie sie mir auch merkwürdig getrennt von eigenen Gefühlen vorkommt. Vor Schreck vielleicht erstarrt.

Ich mache mir Sorgen um sie und habe ihr mehrfach meine Hilfe angeboten, aber es scheint mir, als hätte sie irgendwie aufgegeben und würde sich kaum einem Menschen wirklich anvertrauen. Zuweilen fühle ich mich sehr hilflos, wenn ich ihr zu erklären versuche, dass die Zwänge nicht immer vor unangenehmen Gefühlen schützen werden und sie sich irgendwann einmal ihrer eigentlichen Angst stellen muss.

Wenn ich den Verlauf betrachte, wie harmlos alles anfing, glaube ich, dass die ständige Kontrolle die Angst verstärkt hat, so, als hätte man ihr ständig neue Nahrung gegeben, sie aber immer in dem gleichen Käfig gefangen gehalten. Sie ständig aufgefüttert, ihr aber niemals die Freiheit gegeben.

Ich gerate in hilflose Wut, wenn ich sehe, wieviel Energie die Frau aufbringt, um ihre Angst zu binden, wie sehr sich schon alles verselbständigt und eigene Gesetze bekommen hat und wie völlig egal es ist, ob sie den Kampf aushält oder nicht.

Sie versucht, sich dann auch zu erklären, gibt ihren Leidensdruck zu und probiert, sich anzulehnen. An manchen Tagen, wenn Verzweiflung und Mutlosigkeit hinzukommen, habe ich wenig Hoffnung und viel Mitgefühl. In ihrer größten Not nehme ich sie in den Arm (wie leicht sie ist). Gemeinsam gehen wir ans Fenster und blicken in die Nacht. Der Sternenhimmel über uns, der einäugige Mond. Dinge, die unendlich vertraut und tröstlich sind. In solchen Nächten scheint alles möglich. Wir sind der Wirklichkeit entrückt, gleichzeitig aber sehr nahe.

Ein Sturm kommt auf und bläst um uns herum. Wir halten uns fest an den Händen. Uns wird ein wenig schwindelig wie auf einer Karussellfahrt. Ein kalter Wind lässt alles ganz starr werden.

Was geschieht mit uns?

Als der Boden ins Wanken gerät und wir eng aneinander gezwängt werden, wächst zwischen uns eine vogelartige Gestalt, die wie wild um sich schlägt und uns voneinander trennen will. Ich versuche mich ganz dünn zu machen, um das Tier nicht zu berühren, gleichzeitig will ich den Kontakt zur Frau nicht ganz verlieren. Jede Bewegung ist schmerzhaft, denn der Vogel lässt mich nicht zu ihr. Ich sehe, wie das schreckliche Tier sich zur Frau herabbeugt und mit hoher, heiserer Stimme Drohungen ausstößt. Meine ach so klugen Worte können sie nicht mehr erreichen. Außerdem habe ich den Verdacht, das Vieh kennt all meine Gedanken schon im Voraus. Wie argwöhnisch es mich betrachtet. Was kann ich tun?

Ich traue mich nicht, mit diesem Tier zu kämpfen, da ich nicht weiß, wie ein Vogelhirn denkt und welche Reaktionen mich erwarten. Getrennt von der kleinen Frau, die, wie ich sehe, ihren Kopf vertrauensvoll an den Flügel des Vogels angelehnt hat, bin ich verunsichert: Will sie ihn besänftigen? Ist sie verliebt in die Angst? Gibt es so etwas?

Welche Möglichkeiten bleiben? Ich könnte versuchen, den Vogel in sein altes Verließ einzusperren, aber ich glaube, er würde mit noch mehr Wut erneut versuchen, sich zu befreien. Wenn ich in seine kraftvollen kalten roten Augen blicke, scheint er mir ausdauernd und zäh, so, als hätte er in der Gefangenschaft all sein Kräfte aufgespart. Irgendwo habe ich gelesen, dass es ein Medikament geben soll, welches den Vogel zähmen könnte. Ich glaube aber, gegen dieses Tier hilft noch kein Kraut der Welt.

Ich weiß nicht, wie lange wir so in Gedanken verloren am Fenster stehen. Ich habe kein Gefühl mehr für Raum und Zeit. Eine Verständigung mit der Frau ist zur Zeit nicht möglich. Ich denke, wir werden warten, bis der Vogel eingeschlafen ist, um dann das Unmögliche zu wagen, um dieser Eishölle zu entgehen.

Wir müssen das immer dünner werdende Eis betreten. Ob es uns hält? Wird es möglich sein, die zu Eis erstarrten Zwänge, die uns Halt geben, auf denen wir uns bewegen, gleichzeitig aufzulösen? Ein gefahrvolles Unternehmen. Aber haben wir denn eine Wahl? Als der Morgen anbricht, machen wir uns auf den Weg.

Aufgetaute Schollen hindern uns beim Laufen und legen sich wie nasse, traurige Tücher um unsere Beine. Wäre es klüger gewesen, vorher ein wenig zu üben, auf dem Eis zu laufen? Hätte es uns geholfen herauszufinden, weshalb die Fluten uns vielleicht überwältigen werden, während wir mit diesem Wissen dann im kalten Wasser schwimmen? Ich weiß es nicht.