Wo ein Wille, da auch ein Weg. Die Zwangsstörung ist besiegbar.

Die junge Frau, die in diesem Gespräch ihren Weg aus der Zwangserkrankung beschreibt, war zu Beginn der Erkrankung 14 Jahre alt. Typischerweise fingen ihre Zwänge mit heftigem Händewaschen an. Im Laufe der Zeit, insgesamt litt sie 10 Jahre unter Zwängen, wandelten sich diese. Sobald sie ihren Waschzwang mithilfe von Medikamenten in den Griff bekam, glitt sie mehr und mehr in magische Gedanken und Handlungen hinein. Diesen war mit den Medikamenten, die ihr bei der Bewältigung ihrer Waschzwänge noch geholfen hatten, nicht mehr beizukommen, weshalb sie sich zu einer Verhaltenstherapie entschloss. Hier lernte sie, die Gedanken, die ihr Unheil verkündeten, wenn sie nicht bestimmte Zwangsrituale durchführte, zu bezwingen. Es schlossen sich dann Gedankenzwänge an, die in Form von stundenlangen Grübeleien auftraten. Der Zwang fand immer wieder einen Weg, sich in ihrer Persönlichkeit seinen Platz zu nehmen. Schließlich schaffte es die junge Frau, mit Verhaltensmethoden, die sie in der Therapie lernte, und mit einem unendlich starken Willen, gesund werden zu wollen, die Zwangserkrankung komplett in den Griff zu bekommen und zu bewältigen

Seit mehr als einem halben Jahr sind keine neuen Zwänge aufgetreten. Für die heute 24jährige Studentin hat nach eigenen Angaben ein neues und befreites Leben begonnen. Sie möchte nun all das nachholen, was ihr zu Zeiten der Zwangserkrankung nicht möglich war. Heute fühlt sie sich frei.

Wann fingen deine Zwänge an?

Ungefähr mit 14 Jahren, 1995, da hat das bei mir so richtig begonnen. Schon als Kind habe ich immer Angst gehabt, Sachen anzufassen.

Was war das für eine Angst?

Angst vor Bakterien und Viren. Ich dachte, dass ich bestimmte Sachen nicht anfassen dürfte. Ständig meinte ich, dreckig zu sein. Dann dachte ich, durch mich könnten andere Leute angesteckt werden. Zwar hatte ich ebenfalls Angst um meine eigene Gesundheit, aber ich fühlte mich mehr noch verantwortlich für das Wohl der Anderen. So mochte ich niemandem mehr die Hand geben, aus Angst, dass ich den Anderen dann infizieren könnte. So habe ich begonnen, bestimmte Sachen wie Türklinken nur noch mit den Ärmeln meines Pullovers oder mit dem Ellenbogen zu berühren. Dennoch fühlte ich mich schmutzig und ich fing an, mir die Hände zu waschen, obwohl ich nichts angefasst hatte.

Anscheinend steigerte sich das Händewaschen dann?

Anfang April 1996 war das, als ich bemerkte, dass ich häufig zum Waschbecken renne und meine Hände gründlich wasche. Die Haut wurde nach und nach ganz rot und rissig. Bei mir ging es nur um die Hände, geduscht habe ich wie andere Leute auch. Also ich musste zu dem Zeitpunkt fast ständig, nachdem ich etwas berührt hatte, was auch andere Menschen anfassen konnten, die Hände waschen. Es ging nicht mehr nur um Türklinken. Vor dem Essen, nach dem Essen, vor dem Ausziehen der Kleidung, nach dem Ausziehen der Kleidung, ging ich zum Waschbecken und hielt meine Hände unters Wasser.

Zusammengerechnet über den Tag wusch ich meine Hände ungefähr drei Stunden lang. Wenn ich mich besonders schmutzig fühlte, dann dauerte ein Waschritual mindestens fünf bis zehn Minuten, ich benutzte viel Seife.

Schließlich war die Haut der Hände aufgesprungen, überall hatte ich blutende Stellen. Meine Hände sahen aus wie fleischige Wunden.

Was sagten denn deine Eltern, bei denen du lebtest, zu deinem Tun?

Meine Eltern beobachteten mein Treiben sehr genau. Anfänglich, als ich nur Angst hatte, etwas zu berühren, meinten sie noch, dass sei ein kindlicher Tick, der von alleine vorüber gehen würde. Aber dann sahen sie, wie oft ich meine Hände wusch, erlebten mit, wie ich immer zurückhaltender und stiller wurde. Meine schulischen Leistungen wurden immer schlechter.

Wenn wir zu Verwandten fahren wollten, oder einfach nur ausgehen, dann fand ich Vorwände, um zuhause bleiben zu dürfen. Sei es, dass ich für die Schule lernen wollte, oder Magenschmerzen hatte, Ausreden erfand ich viele, da war ich sehr kreativ.

Meine Eltern erkannten dann recht schnell, dass ich an einer wirklichen Krankheit litt. Sie sprachen mit mir über Therapiemöglichkeiten, von der medikamentösen Behandlung bis zur Verhaltenstherapie. Anfangs wollte ich nicht zu einem Arzt; ich wollte meine Probleme unbedingt selbst lösen, ohne fremde Hilfe. Außerdem glaubte ich daran, alleine von diesem Tick, so nannte ich diesen Zwang damals, wegzukommen. Meine Eltern haben mir ständig versichert, dass meine Macken mit Verrücktsein nichts zu tun hätten, sondern eine ernst zu nehmende Krankheit sei.

Warum hast du dich dann schließlich doch in ärztliche Behandlung begeben?

Weil sich in der Zwischenzeit, bis ungefähr 1998 hin, dann noch magische Gedanken zu meinen Waschzwängen gesellten. Da ich nicht mehr dauernd die Hände waschen wollte, überlegte ich, was ich stattdessen machen könnte, um mich sicher zu fühlen.

So kam ich zu der Handlung, statt mir die Hände zu waschen, lieber zweimal die Treppe herunter gehen zu müssen.

Die magischen Handlungen waren meine Gegenmaßnahmen gegen die Waschzwänge. Nur nahmen sie dann immer mehr den Raum ein, den ich durch das Vermeiden des Händewaschens einsparen wollte.

Irgendwann hatte ich das Gefühl, 24 Stunden des Tages in Zwangshandlungen eingespannt zu sein. Ich war fix und fertig. In der Schule schrieb ich nur noch fünfen und sechsen. Es war mir nicht mehr möglich, mich auf den Unterricht zu konzentrieren, weil ich dauernd über irgendwelche Zwänge nachdachte. Mich packte auch mehr und mehr die Angst, bei dem ganzen Kram durchzudrehen und wirklich verrückt zu werden. Mir wurde damals klar, dass ich es ohne eine Behandlung nicht schaffe.

Von meinen Freunden hatte ich mich zurückgezogen. Nachts konnte ich nicht mehr schlafen. Wenn ich träumte, dann ging es nur noch ums Waschen.

Also beschloss ich 1998, da war ich bereits drei bis vier Jahre mit der Erkrankung beschäftigt, einen Neurologen aufzusuchen.

Es war eine Frau, die sich mit der Zwangserkrankung halbwegs auskannte. Sie empfahl mir sofort, eine Verhaltenstherapie zu machen. Aber das erschien mir zu aufwändig. So verschrieb sie mir Fluctin.

Hat dir das Medikament geholfen, zwangsfrei zu werden? Wie lange hast du es insgesamt ausschließlich mit Medikamenten versucht, gesund zu werden?

Fast vier Jahre lang. Anfangs hat mir das Fluctin ja auch gut getan. Ich konnte wieder besser schlafen, war nicht mehr so unruhig. Die Dosierung steigerte sich im Laufe der Zeit, irgendwann nahm ich die Höchstdosis.

Andere Leute hätten bei mir keine Fortschritte gesehen, was die Zwänge betrifft. Aber ich selbst konnte die Waschgänge reduzieren, habe zwar immer noch ausführlich meine Hände gewaschen, aber nur noch zu Zeiten, in denen auch gesunde Menschen dieses tun.

Wurden die magischen Gedanken und Handlungen dann auch weniger?

Nein. Keineswegs. Auch meine Kontaminationsängste, die Angst vor Dreck, ist mir geblieben. Deshalb benutzte ich nach wie vor den Pullover, um eine Türklinke herunter zu drücken. Aber hinterher musste ich mir nicht mehr die Hände waschen.

Als die magischen Gedanken und dann Gedankenzwänge stärker wurden, versuchte ich einige andere Antidepressiva, aber außer starken Nebenwirkungen brachten sie keine Linderung.

Was veränderte sich?

Ich musste mehr und mehr die Räume, in denen ich lebte, in Zonen einteilen. Es ist schwierig, einem Außenstehenden davon zu erzählen, das System, welches ich mir selbst erschaffte, war äußerst kompliziert. Zonen waren Raumabschnitte, die ich nicht betreten durfte. Aber auch ein Blatt Papier, welches auf dem Schreibtisch lag, war eine Zone. Jeder Zone durfte ich mich nur von rechts nähern, und nur rechts davon sitzen. In meinem Schlafzimmer, welches 13 qm groß ist, habe ich es schließlich auf 347 Zonen gebracht! Im Nachhinein habe ich mir mal die Mühe gemacht, alle Zonen nachzuzählen und kam dann auf diese große Anzahl.

Es war eine ungeheure Arbeit für mich, in diesen Zonen zu leben und zu arbeiten. Manchmal, wenn ich es mit der Sitzordnung, also nur rechte Seite in der Zone besetzen dürfen, nicht hinbekam, dann kam mein System ins Stocken. Dann benötigte ich einen weiteren Zwang, um mir wieder eine innere Ordnung zu schaffen. Ich musste dann aufstehen und zweimal das Licht anmachen oder zweimal über die Türschwelle treten, um mich sicher zu fühlen.

Solche bescheuerten Sachen kennt wahrscheinlich fast jeder Zwangskranke.

Ein eher seltener Zwang war meine Sorge, dass ich etwas von meiner Person verliere, wenn ich mich aus einem Sessel oder von einem Sofa erhebe. Stand ich von einem Gegenstand auf, bekam ich einfach das Gefühl nicht weg, dass etwas von mir dableiben und verloren gehen würde. Deshalb setzte ich mich dann ein zweites Mal hin, notfalls auch ein drittes, viertes oder fünftes Mal, solange, bis ich endlich sicher war, alles von mir mitzunehmen.

Kannst du genauer erklären, was dir verloren gehen sollte?

Ein Teil meiner Wärme, meiner Persönlichkeit, oder meiner Aura. Ganz schwierig zu definieren.

Wie hast du dich verhalten, wenn du nicht zuhause warst?

Dann war ich äußerst konzentriert und achtete genau darauf, wo ich saß. Ich stand unter großer Anspannung, sowohl psychischer als auch physischer, weil ich alle Muskeln bewusst anspannte, um nichts von mir zu verlieren.

Die Gespräche um mich herum habe ich kaum bemerkt, geschweige denn die Inhalte verstanden.

Was die Kontamination betrifft, so habe ich immer darauf gelauert, dass andere die Tür aufmachen, und ich schnell hindurch schlüpfe.

Wann hast du dich entschlossen, verhaltenstherapeutisch gegen die Zwänge anzugehen?

  1. Zu dem Zeitpunkt half mir Fluctin nicht mehr weiter; und ich konnte das Medikament dann auch in den ersten Monaten meiner Verhaltenstherapie, nach Absprache mit der mich behandelnden Neurologin, problemlos absetzen.

Als erstes hatte ich ein total schlechtes Abitur gemacht, da ich kaum Zeit hatte, für die einzelnen Fächer zu lernen. Ich war stinksauer auf mich.

Denn im Grunde wusste ich schon, als ich zu der Neurologin ging, dass das, was ich da den ganzen Tag machte, total bescheuert und unsinnig war. Andere Leute, die ich beobachtete, machten solche Sachen ja auch nicht. Früher hatte ich diesen ganzen Kram auch nicht gebraucht. Und trotzdem war es mir nicht möglich, aufzuhören. Mein Gefühl wollte einfach, dass ich weiter machte.

Ich wollte studieren, wollte weg in eine andere Stadt ziehen, war aber durch meine Zwänge total unfähig, irgendetwas eigenständig zu entscheiden.

Zum Glück reichte es aber gerade noch dazu, einen Verhaltenstherapeuten aufzusuchen.

Wie sah die Therapie bei dir aus?

Nun, der Verhaltenstherapeut hat sich zuerst intensiv meine Geschichte angehört. Dann habe ich recht schnell mit „Brainy“ zu arbeiten angefangen. Zuerst habe ich mir Zeiten gestellt, in denen meine Zwangsrituale von mir beendet sein mussten. Die Zeit habe ich dann immer kürzer gestellt. Das klappte anfänglich ganz gut, ich merkte aber auch, dass ich statt der Zwänge, die ich unterlassen hatte, andere ausgeführt hatte. Außerdem war ich ja durch die Übungen am Rechner an den einen Raum im Haus gebunden.

Deshalb habe ich für mich „Brainy“ weiterentwickelt. Ich war da genauso kreativ wie im Erdenken neuer Zwänge. Im Grunde habe ich mir selbst einen ständigen Gegendruck erzeugt, dem ich den Druck des Ausführenmüssens meiner Zwänge entgegen stemmen kann.

Ob das blöd aussah, was ich da machte, interessierte mich wenig, die Hauptsache war für mich, meine Zwänge, die mich unendlich wütend machten, in den Griff zu kriegen.

Wie sah diese Weiterentwicklung von „Brainy“ aus?

Brainy gab mir vor, wie lange ich aushalten musste, um keine Zwangshandlung auszuführen. Da ich mobiler werden wollte, also mich im ganzen Haus mit dieser Brainy-Methode konfrontieren wollte, habe ich statt Brainy eine Eieruhr genommen.

Äh, Eieruhr? Was hast du damit gemacht?

Sie mit mir herum geschleppt und Zeiten gestellt, in denen ich nur links durch eine Zone gehen durfte. So seltsam das auch klingen mag.

Wichtig fand ich zu dem Zeitpunkt, ganz kleine Zeitintervalle einzustellen, so etwa eine halbe Minute, in der ich mich dem Zwang widersetzen konnte. Bis zum Piepen der Eieruhr ging ich nur links durch meine Zonen.

Was für Gefühle hattest du, wenn du so gegen die Regeln des Zwangs verstoßen hast?

Oh, ich empfand einen mich fast wahnsinnig machenden Druck, nach rechts in die vorgeschriebene Richtung des Zwangs weichen zu müssen, und ich wartete voller Anspannung auf die Eieruhr. Manchmal, wenn ich merkte, wie schwach ich gegen die Anforderungen meines Zwangs war, habe ich Zeitintervalle von fünf Sekunden genommen, die ich durchhalten musste.

Ich schaffte es immer, mich an die Vorgaben der Zeitintervalle zu halten, was mich mit Stolz und Genugtuung erfüllte.

Nach ca. drei Monaten konnte ich mir bereits Zeitspannen von zehn Minuten nehmen, in denen ich es aushielt, von den Regeln des Zwangs abzuweichen. Obwohl ich besser zurecht kam, war es auch nach dieser langen Übungszeit noch schwierig, nicht nach sechs oder sieben Minuten den ganzen Kram aufzugeben, und die letzten drei bis vier Minuten zogen sich unendlich lange hin.

Aber da ich den festen Willen hatte, gesund zu werden, musste ich durch diese Plackerei hindurch!

Hat sich was durch diese Übungen verändert?

Ja, es war mir möglich, während ich vor dem Rechner saß und für mein Studium arbeitete, nicht mehr darauf zu achten, wie meine Schreibutensilien auf dem Schreibtisch angeordnet waren. Auch konnte ich meine Sachen „blind“ ablegen, also ohne mich vergewissern zu müssen, ob die Ordnung des Zwangs eingehalten wurde. Es gelang mir, mich auf meine Hausarbeiten zu konzentrieren.

Hat dein Therapeut dich bei deinen Übungen begleitet?

Hätte er gerne, aber das Gemeine an meinem Zwang war, dass sobald ich in der Praxis des Therapeuten saß, oder während ich mit ihm sprach, bei mir keine Zwänge vorhanden waren. Es störte mich keineswegs, wie es bei ihm auf dem Schreibtisch oder im Büro aussah, das war mir dann alles egal. Ich hatte auch nicht mehr den Drang, meine Sachen rechts von mir ablegen zu müssen. Da war nichts.

Deshalb konnte ich es nur so machen, dass ich meine Expositionen alleine durchführte.

Noch einmal zurück zur Übung mit der Eieruhr? Wie lange hast du insgesamt damit geübt, und was hat sich dadurch bei dir verändert?

Geübt habe ich damit ungefähr drei bis vier Monate, jeden Tag um die 20 Minuten, je nachdem, wie viel Zeit ich hatte. Die magischen Zwänge verschwanden, und die Kontaminationszwänge waren auch vorbei.

Dann warst du also geheilt?

Nein. Der Zwang zeigte sich dann bei mir in einer anderen Form. Er versucht es ja immer wieder, seine Bedeutung zu behalten. Ich kam dann in ganz heftige Gedankenzwänge. Ausgerechnet mein Therapeut, mit dem ich über meine bisherigen Übungen gesprochen hatte, sagte mir in einer Sitzung einen Satz, der mich dann nicht mehr verließ.

Wir hatten darüber gesprochen, dass nicht ich es sei, die diese ganzen Zwangsrituale ausführen wolle, sondern dass ich durch meinen Zwang fremdbestimmt würde.

Dieser Satz, den ich mir einprägte, nämlich „Das bist nicht du, das ist dein Zwang“, der ratterte mir dann stundenlang im Kopf herum. Wie eine Dauerspirale, oder wie ein Tinnitus, der einem ständig im Ohr brummt, hatte ich mit diesem Gedanken zu kämpfen.

Also eine Verschiebung von einem Zwang zu einem anderen?

Ja, jetzt wurden es Gedankenzwänge, die mich stundenlang grübeln ließen. Zusätzlich zu dem obigen Zwang musste ich ständig über Ereignisse grübeln, die in der Vergangenheit lagen, und bei denen ich abchecken musste, ob ich was Falsches gesagt oder getan haben könnte.

Beispiel: Wir nahmen im Studium die Märchen der Brüder Grimm durch. Da ging es auch um eine Aussage eines der Brüder Grimm zu einem seiner Märchen, welche mir nicht passte. Ich hatte diesbezüglich gedacht „So kann er das doch nicht sagen, ich sehe das anders.“. Daraufhin musste ich wochenlang darüber nachdenken, wieso ich mir anmaßen wollte, einen Gelehrten wie den Grimm bezweifeln zu wollen. Ich hatte richtiggehend Schuldgefühle. Ich kam mir sehr vermessen und arrogant vor. Mein Gewissen meldete sich dauernd mit Sätzen wie „So was darfst du doch nicht denken! So was kannst du doch nicht machen.“

Über Wochen war ich mit mir selbst in einem schweren Konflikt. Ich wollte meine Worte nicht mehr denken, aber sie ließen sich nicht aufhalten.

Warst du verzweifelt? Was waren deine Gefühle in diesen Wochen?

Ich dachte, für immer in dieser Gedankenspirale festzustecken. War ein Konflikt vorüber, kam der nächste. Dann kam mir ein Ereignis, welches vielleicht zwei Wochen zurück lag, in den Kopf, worüber ich dann zu grübeln begann. Schließlich meine Zweifel, ob ich zu hart oder fordernd gewesen sei. So hatte ich meiner Schwester, mit der ich vor dem Fernseher saß, gesagt, sie solle diesen lauter stellen. Sofort begann ich hinterher zu überlegen, wie mein Satz wohl auf sie gewirkt haben könnte, ob ich faul sei, weil ich nicht selbst aufgestanden sei usw.

Komisch fand ich, dass ich, je länger ich in diesem Grübeln war, immer mehr von früher erinnerte, immer länger und immer mehr Themen im Kopf behielt. Es war, als würde er sich voll saugen mit Zwangsgedanken.

Manchmal saß ich in einem Raum, wollte mich nur kurz hinsetzen und stellte dann irgendwann, wenn ich sozusagen aufwachte, ganz entsetzt fest, dass ich drei Stunden gesessen hatte, ohne zu merken, wie die Zeit vergeht, einfach nur mit überflüssigen Grübeleien beschäftigt.

Wie lange dauerte da deine Therapie bereits an?

Ca. zwei Jahre. Es plätscherte so vor sich hin. Im Grunde war ich zutiefst unglücklich, weil ich kein Ende dieser ganzen Qualen sah. Nie war ich unselbstständiger und immobiler gewesen als zu dieser Zeit.

Aber anscheinend hast du nicht aufgegeben? Wie kamst du zu deinen nächsten Schritten? Was war deine Motivation?

Erstens schrieb ich ziemlich schlechte Noten in meinen Studienarbeiten. Ich hatte mich isoliert und war oft allein. Im Hinterkopf hatte ich aber immer noch meinen Plan, endlich von zuhause auszuziehen und meinen Hobbys nachzugehen.

Ich hatte mir doch vorgenommen, frei sein zu wollen!

So war da eine Riesenwut in mir, zum Glück aber dieses Mal nicht auf mich selbst, sondern auf die Zwänge und auf die ganze Situation.

Was mir zu dem Zeitpunkt immer wieder in den Kopf kam, war meine Feststellung, dass ich es geschafft hatte, die magischen Zwänge wegzuarbeiten. Das war für mich ein Rettungsanker, diese Gewissheit zu verspüren, dass wenn ich mir etwas ganz fest vornehme, es dann auch schaffen zu können.

Die Hoffnung auf Gesundung hat mich, trotz Verzweiflung und Wut, niemals verlassen.

Heute im Rückblick stelle ich fest, dass es Zeiten gab, in denen ich kämpfen konnte, weil ich die Kraft dazu hatte. Dann gab es aber auch Tage und Wochen, wo mir der Mut zum Durchhalten fehlte, sodass ich warten musste, bis ich weitermachen konnte.

Das war ja aber ein Erfolg, nicht mehr auf dich selbst, sondern wütend auf den Zwang zu sein?

Ja, dass hat mir für mich Erleichterung verschafft. Wenn ich auf meine bisherige Situation blickte, so konnte ich mir sehr rational sagen, dass ich mein Leben bisher nicht wirklich gelebt hatte, aber dass ich darüber nicht jammern, sondern nach vorne blicken sollte.

Da waren Sätze wie „Mache jetzt einen Schnitt. Fange endlich an, das zu tun, was du immer tun wolltest“ in mir, die mich voran getrieben haben.

Du wolltest dir also deine selbst gesetzten Ziele nicht durch die Zwänge kaputt machen lassen?

Richtig. Es war dann die Wut, so nicht weitermachen zu können, die meine Grübeleien manchmal unterbrach.

In meiner Wut bemerkte ich eher, wann ich grübelte, sodass ich mich stoppen und was anderes machen konnte.

Wie das?

Wenn ich nach einer Weile der Grübeleien merkte, dass ich ein Gefühl von Aggression in mir spürte, dann konnte ich darüber nachdenken, was ich gedacht hatte. Wenn es wieder Zwangsgedanken gewesen waren, sagte ich mir „Gut, ist nun mal wieder passiert. Die Zeit, die ich jetzt vergrübelt habe, ist verloren. Jetzt unterbreche ich diesen Gedankenkreislauf aber. Hier ist der Schnitt. Beim nächsten Mal werde ich mehr auf mich und meine Gedanken achten.

Wie hast du dich abgelenkt, um nicht wieder zu grübeln anzufangen?

Och, über ganz banale Sachen nachgedacht, wie zum Beispiel darüber, was es für ein Mittagessen gibt, oder habe mir eine Illustrierte zur Hand genommen.

Und das klappte?

Anfangs nur ganz schwer. Meine Gedanken wanderten immer wieder zum Zwangsgedanken zurück. Ich habe dann immer versucht, sofort an etwas anderes zu denken bzw. mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Bei einem solchen „Kampf“ ging es teilweise 30 bis 40 x hin und her zwischen den Gedanken und den Ablenkungen. Sowas konnte stundelang dauern. Nachher war ich körperlich kaputt, soviel Anstrengung hat es mich gekostet. Manchmal wollte ich auch aufgeben.

Aber dann hat mich nochmals eine riesige Wut gepackt, endlich die Zwangserkrankung komplett zu beenden. Im Juli 2004 war das. Ich hatte Semesterferien, viel Zeit und das Gefühl, dass etwas passieren muss. Dass dieser Stillstand in meinem Leben beendet werden muss.

Von einem Moment auf den anderen hatte ich die Idee, so zu verfahren wie ich es mit Brainy gelernt hatte. Aber in der Richtung, dass mir diese Methode helfen sollte, mich daran zu erinnern, ob ich konkret denke oder in Zwangsgrübeleien verstrickt bin.

Jetzt wird es spannend! Was hast du dir da überlegt?

Ich begann, das ganze Haus komplett mit Denk-Zetteln zu markieren, damit ich ständig und überall daran erinnert werde, nicht in Grübeleien zu verfallen.

Da ich wusste, wie schnell auch dieses Markieren in Zwanghaftigheit ausarten kann, besorgte ich mir bunte Notizzettelchen. Darauf malte ich entweder ein Ausrufe- oder Fragezeichen, entwarf Smileys und andere Symbole. Ich achtete auf Unterschiedlichkeit, es sollte keine Gewöhnung aufkommen.

Also nahm ich auch noch die Eieruhr zur Hilfe, dann auch noch den Wecker. Beide wurden auf unterschiedliche Zeitintervalle eingestellt. Mal klingelte die Eieruhr nach zwei Minuten, dann der Wecker nach einer halben Stunde.

Schließlich nahm ich noch die Zeitschaltung für die Lichter in unserem Haus mit in meine Übung hinein. Es ging mir dann sozusagen in bestimmten Zeitabschnitten ein Licht auf, was mich darauf aufmerksam machte, nachzuprüfen, ob ich grübelte oder konkret gedanklich beschäftigt war.

Wie lange hast du diese heftige Übung durchgeführt?

Sechs Wochen lang, es war wirklich ein Powertraining. Ich hatte Glück, Semesterferien zu haben, sonst wäre das nicht möglich gewesen. Sechs Wochen lang habe ich jeden Tag mithilfe der vielen Zettel, alleine in meinem Zimmer hingen 40 Stück (um jeden Stift war ein Zettel geklebt), Wecker, Uhren und Lichter, viele nützliche kleine Werkzeuge gegen meine Gedankenzwänge gehabt. Ging ich durchs Haus, hingen am Treppengeländer  Zettelchen mit Ausrufezeichen, oder im Wohnzimmer klingelte der Wecker, wodurch ich dann in meinem Tun inne hielt und mich auf Zwangsgedanken überprüfte. Sechs Wochen lang habe ich gebraucht, um mir meine Zwangsgedanken regelrecht abzugewöhnen. Als Kind hatte ich den Tick, nach jedem Satz einmal kurz zu hauchen. Als ich es bemerkte, nahm ich mir vor, darauf zu achten und es sein zu lassen. Das klappte. Gerade diese kleine Übung, die ich als Kind schaffen konnte, gab mir eine Vorstellung davon, wie ich es auch schaffen könnte, mir die Zwangsgedanken abzutrainieren.

Zwangsgedanken also in Form von Grübeleien, das Richtige gesagt oder gedacht zu haben?

Ja genau. Zweifel und Grübeleien. Am PC hing ein Zettel, ich schaute darauf und stoppte in dem, was ich gerade tat. Dann checkte ich meinen momentanen Gedankeninhalt, die Dauer der Gedanken, die Realitätsnähe der Gedanken. Entweder merkte ich, wieder zwanghaft gegrübelt oder gezweifelt zu haben.

Aber nach einer Weile konnte ich besser unterscheiden, was zwanghaft war oder nicht. Ich wurde auch sicherer im Umgang mit meinen Gedanken, weil ich mir dachte, dass andere Menschen genauso dachten wie ich. Ich verglich mich häufig mit Gesunden.

Dann überlegte ich jetzt auch, aber mit mehr Klarheit und Ruhe, wie die Menschen auf das, was ich gesagt hatte, reagiert hatten. Entweder hatten sie überhaupt nicht reagiert oder waren freundlich gewesen. Jedenfalls sah ich nichts Beunruhigendes in meinem Verhalten

Es kam mir vor, als würde ich die Realität jetzt wichtiger nehmen können.

Nach sechs Wochen, es war Ende August 2004, waren die Gedankenzwänge weg.

Gleichzeitig verließ mich mein unsicheres Gefühl, etwas von mir verloren zu haben, wenn ich mich von einer Sitzgelegenheit erhob. Dabei hatte ich dagegen nicht direkt angekämpft. Aber ich merkte schon, als ich noch mit meinen Gegenmaßnahmen gegen die Grübeleien beschäftigt war, dass dieses Gefühl schwächer wurde. Ich verbot mir auch, da ich die Zettel als ständige Ermahnungen vor mir hatte, über das ungute Gefühl, welches ich bisher beim Aufstehen gehabt hatte, nachzudenken.

Wirklich komplett weg? Du brauchst nichts mehr dagegen tun?

Nein. Die Übung mit meinen vielen kleinen Helfern ließ ich dann mehr und mehr weg. Nach drei Monaten, im Oktober 2004, war ich komplett zwangsfrei. Seitdem habe ich auch keinen Zwang mehr gehabt.

Ist jetzt etwas an dir selbst oder in dir selbst anders?

Heute bin ich ein anderer Mensch. Am Anfang war es ein komisches Gefühl, ohne Zwänge zu sein. Auf einmal hatte ich auch soviel Zeit. Aber nach und nach füllte sich mein Leben mit normalen Problemen. Es ist ja nicht so, dass ich jetzt nur noch glücklich und zufrieden bin. Da gibt es Streit mit einem Professor, Probleme mit der Familie. Aber diese Schwierigkeiten haben eine andere, viel höherwertige Qualität als die, die ich während der Zwangserkrankung hatte.

Die Zwangserkrankung löst nichts mehr an Gefühlen in mir aus. Sie ist weg. Ende des letzten Jahres hatte ich eine Art von Erinnerung an den Zwang, oder besser gesagt, ich bekam eine Idee davon, wie ein Zwang entsteht. Da sah ich einen Zettel auf meinem Schreibtisch, der nicht gerade lag. Da kam mir blitzartig der Gedanke, dass ich ihn früher gerade gerückt hätte, um mich besser zu fühlen. Aber das Bedürfnis, irgendetwas in dieser Richtung dann konkret zu tun, die hatte ich nicht mehr. Dann war der Gedanke vorüber und kam auch nicht mehr zurück. Was ich spürte, war etwas wie ein Erstaunen über dieses bereits mir fremd gewordene Denken. Ich begriff nicht mehr, wieso ich zu einer anderen Zeit so anders und fremd gedacht hatte. Ich erzähle dir heute von dieser Zeit der Erkrankung wie von einem Urlaub. Der hallt auch nicht ewig lange nach, und das spezielle Urlaubsgefühl klingt irgendwann ganz ab. Damit meine ich, dass dieses Thema nicht mehr mit Emotionen besetzt ist.

Fühlst du dich heute selbstsicherer? Oder freier?

Ja, selbstsicherer und gelassener. Wie schon oben weiter erwähnt, habe ich weiterhin Probleme, reale Schwierigkeiten, die ich bewältigen muss. Mein Selbstbewusstsein resultiert wohl aus dem Stolz, vor allem mit eigener Willenskraft und Kreativität die Zwangserkrankung besiegt zu haben. Die Probleme, die ich jetzt habe, zum Beispiel die oben erwähnten Streitereien mit meinem Professor, die gehe ich mit großer Gelassenheit an. Ich habe in mir die Gewissheit, etwas weit Komplexeres und Schwereres bewältigt zu haben. Das relativiert dann meine Angelegenheiten und gibt mir Kraft und Mut, mich an die tatsächlichen Schwierigkeiten heran zu begeben.

Ich bin bereit, mich für mich und mein Leben einzusetzen, wie ich es im „Kampf“ gegen die Zwangsstörung gemacht habe.

Ob sie mich je wieder angreifen kann, weiß ich nicht. Was ich aber weiß ist die Tatsache, dass sie besiegbar ist. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich selbst habe es geschafft!