(von Gabriele Raubart)

 Seit Jahren plage ich mich mit einem Mieter von mir herum, der anfangs unauffällig und geruhsam bei mir wohnte, dann aber zusehends zu einem unangenehmen und aufsässigen Mitbewohner wurde. Zuerst hatte ich die vielen Gemeinheiten feige herunter geschluckt, wollte – brav wie ich nun mal war – keinen Ärger und keine Schuldgefühle auf mich laden. Dann aber wurden mir Herrn Grübels Angewohnheiten zu viel, er zahlte keine Miete, er stänkerte und krakelte, er beleidigte mich, entwickelte das diffuse Wesen eines Stalkers und, das brachte das Fass letztlich zum Überlaufen, fing an, mich komplett dirigieren und leiten zu wollen.

Natürlich war es lange hin mein eigenes Unvermögen, was sein Verhalten förderte und begünstigte, aber ich muss zugeben, dass ich zeitweilig Angst vor diesem Herrn hatte.

Nichtsdestotrotz habe ich nun vor einigen Tagen meinen Anwalt eingeschaltet und mich beraten lassen, was ich für Möglichkeiten bezüglich meines Parasiten habe. Er riet mir zu einer Räumungsklage. Per Gericht sollte Grübel eine Anweisung bekommen, die ihm mitteilte, dass er sich unverzüglich aus meinem Haus entfernen sollte.

So ist es gestern geschehen. Die Mahnung wurde übergeben, ich hörte, wie sich ein kurzes Gespräch zwischen dem Gerichtsbeamten und Grübel entwickelte.

 Eine Stunde später klingelte es heftig an meiner Wohnungstür, bangen Herzens machte ich die Tür auf, wusste ich doch bereits, wer draußen stand. Richtig, mein verärgerter Nachbar baute sich drohend vor meiner Tür auf.

Es kam zu folgendem Dialog, zur Vereinfachung nenne ich Herrn Grübel “Grü” und mich “Gra”.

Grü: Guten Tag.

Gra: Guten Tag. Wie geht’s?

Grü: Nicht so gut, Sie wissen schon warum.

Gra: Sie meinen die Zwangsräumung?

Grü: Ja, genau, was soll das?

Gra: Nun, ich denke, dass wissen Sie sehr genau. Sie haben ihre Grenzen sehr weit überschritten.

Grü: Was für Grenzen?

Gra: Sie haben sich in mein Leben eingenistet. Das möchte ich nun nicht mehr.

Grü: Aber früher waren Sie dankbar dafür, da brauchten Sie mich sogar.

Gra: Vielleicht, aber jetzt brauche ich Sie nicht mehr, ich komme alleine klar.

Grü: So? Woher wollen Sie das wissen? Bisher sind Sie nach zwei bis drei Tagen rückfällig geworden, haben sich hinter mir versteckt, waren nicht in der Lage, Verantwortung für die eigene Person zu übernehmen. (Lächelt spöttisch).

Gra: Aber nun möchte ich es. Ich bedanke mich nicht bei Ihnen. Sie haben immer dafür gesorgt, dass ich Sie gebraucht habe. Es war mir nicht möglich, für mich alleine Entscheidungen zu treffen, weil Sie mir immer etwas anderes gesagt haben als ich es wollte. Sie wussten stets sehr genau, wie Sie mich manipulieren konnten, schließlich leben Sie schon Jahrzehnte mit mir.

(Grü will intervenieren, doch ich lasse ihn nicht zu Wort kommen)

Ich bin jetzt erwachsen, habe geübt ohne Sie klar zu kommen, habe versucht, auf meine eigene Stimme zu horchen und ihrem Weg zu folgen.

Verstehen Sie?

Niemand kommt mit einem Parasiten zur Welt. Ich bin nicht geboren worden, um mich ein Leben lang mit Ihnen auseinandersetzen zu müssen.

Herr Grübel, ganz ehrlich: Dazu wird mir meine Zeit allmählich zu kostbar. Sie müssen gehen, wenn nicht freiwillig, werde ich andere Maßnahmen zu Hilfe  nehmen. (Eine leichte Rötung zeigt sich bei Grübel, er kaut auf seinen Kiefermuskeln herum, ansonsten bleibt seine Miene ruhig).

Grü: Dass ich nicht lache! Was für Maßnahmen denn? Wollen Sie mich verprügeln oder in die Luft sprengen? Sie wissen doch überhaupt nicht, wie Sie mich loswerden können.

Gra: Doch.

Grü: Na denn, was haben Sie sich denn ausgedacht? Bedenken Sie, ich kann Gedanken lesen, ich kann Gedanken steuern, ich kann sogar Ihre Gefühle manipulieren. Wer sind Sie denn? Ein Nichts! Ein Niemand! Völlig plan- und verantwortungslos, feige bis auf die Knochen, ein Jammerlappen, ein egoistischer Blender.

Ich mache Sie fertig, ich mache Sie zu einem hochgradig psychotischen Nervenbündel. Was bilden Sie sich ein? Wer sind Sie denn? (Tatsächlich erscheint auf meinem Gesicht ein Lächeln)

Gra: Ich bin Gabriele. ICH BIN NUR ICH.

Grübel weicht einen Schritt zurück, die Augen zusammen gekniffen, zwei helle und hasserfüllte Augen, voller böser und hinterlistiger Energie. Wiederum lächele ich ihn an.

Grü (zischend und schwer atmend): DAS lasse ich mir nicht gefallen. Dann:

Grü: Du entkommst mir nicht! Du nicht! Du bleibst für immer bei mir.

Im ersten Moment fühle ich bei diesen Worten Furcht und Enge. Aber gerade diese Enge will ich aufreißen.

Gra: ICH BIN GABRIELE. NIEMAND SAGT MIR, WER ICH BIN. NIEMAND SAGT MIR, WAS ICH ZU TUN HABE.

Verschwinden Sie!

Und noch was: Ich kann Sie nicht leiden, Sie sind für mich Abschaum und Dreck. Jemand, der nur Böses im Schilde führt.

Aber nicht mehr bei mir, denn ICH bin stärker, klüger und lebendiger. Als ich geboren wurde, habe ich mein Leben gemocht. ICH bin geboren worden, um das Leben – mein Leben – zu lieben.

Dahin will ich, und ich komme dahin.

Hauen Sie ab!

Herr Grübel wendet sich ab, ohne sich noch einmal umzudrehen. Aber ich weiß, wie er denkt, und daher bin ich ihn noch nicht los. Bestimmt ich habe ihn mit meinen Worten getroffen, sicherlich auch nachdenklich gestimmt, leider nicht im positiven Sinne. Nur eines kann er nicht abwenden oder besiegen: Meinen Willen!

Die folgenden Tage höre und sehe ich Grübel nicht. Trotzdem weiß ich, wie er mich beobachtet, analysiert und neue perfide Pläne schmiedet. Manchmal, wenn ich durch das Treppenhaus gehe, höre ich nur per Zufall, wie eine Tür leise zugemacht wird, vernehme über mir auf der Treppe tapsige Schritte, merke, wie manchmal meine Türklinke sanft herunter gedrückt wird.

Grübel gibt nicht auf.

Tatsächlich klingelt er eine Woche nach der ersten Auseinandersetzung wieder an meiner Tür. Als ich öffne, steht Grübel vor mir, korrekt in einem schwarzen Anzug, das karierte Hemd bis zum obersten Knopf zugeknöpft, die braunen Schuhe gestriegelt und glänzend, kurzum: Ein Biedermann vom Scheitel (gerade gezogen) bis zur Sohle (aus Leder, so hört man ihn nicht so schnell).

Nun entfaltet sich an meiner Haustür folgender Dialog:

Grü: Erst einmal guten Tag. So geht das nicht, wie Sie sich das vorstellen. Ich kann nicht ausziehen, Sie brauchen mich. Sie wissen es nur noch nicht. Vielleicht sind Sie auch in einer schwierigen Phase. Nun, ich habe Sie beobachtet, was sie sicherlich nicht bemerkt haben. Ich möchte auch nicht, dass Sie sich durch mich beengt oder bedroht fühlen. (Bei diesem Satz ein Grinsen auf meinem Gesicht.)

Aber Sie können ihr Leben nicht ohne mich leben, wissen Sie denn nicht, wie gefährlich es da draußen ist? Wie schutzlos Sie ohne mich sind?

Sie wollen doch wohl keine unnötigen Risiken eingehen, schließlich sind Sie dumm und unerfahren. Grübel holt tief Atem, um in seiner Predigt fortzufahren.

Diese Pause nutze ich, um mich in das Gespräch einzubringen.

Grab: Herr Grübel, lassen Sie mich bitte (selbst hier bleibe ich noch höflich) Auch einmal ein paar Worte sagen. Also. Es ist in der Tat so gewesen, dass ich mich, trotz ihres behutsamen (hier benutze ich imaginäre Anführungszeichen, die ich mit den Händen in die Luft male) Auftretens in den letzten Jahren von Ihnen bedroht fühlte. Und nicht nur das, auch eingeengt und weggeschlossen.

Dabei bin ich richtig krank geworden. Anfänglich meinte ich ja, sie würden es gut mit mir meinen, aber im Laufe der letzten Monate bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass gerade das Gegenteil der Fall ist.

Sie meinen es gar nicht gut mit mir!

Jetzt sage ich Ihnen mal was, worüber Sie gleich in Ihrem stillen Kämmerlein nachdenken werden: Vor ner Woche haben Sie mir erzählt, ich sei ohne Sie ein Jammerlappen, eine Null und ein Niemand.

FÄLLT IHNEN ALLMÄHLICH VIELLEICHT AUCH AUF, DASS SIE MIT DIESEM BILD UNS BEIDE VERWECHSELN?

Die Null sind Sie, ebenso ein Niemand. Ohne mich könnten Sie doch überhaupt nicht existieren. Ohne meine Gedanken, ohne meine Grübeleien, ohne meine ängstlichen Gefühle.

ACHTUNG: JETZT GUT ZUHÖREN, HERR GRÜBEL:

!!! Ich bin Sie leid. Sie langweilen mich, Sie machen mich müde.

Ich weiß auch, wie abhängig Sie von mir sind, ohne mich kein Zuhause mehr haben. Folgenden Deal biete ich Ihnen an, Sie wären sehr dumm, darauf nicht einzugehen. Sie dürfen bei mir wohnen bleiben, wenn Sie sich zukünftig ruhig verhalten. Weder will ich Sie sehen noch hören, Sie bleiben still in Ihrem Kämmerlein. Kein Lärm, keine Boshaftigkeit, keine Maulereien, keine Kritik, keine Beobachtung, keine Einmischung in meine Angelegenheiten, keine neunmalklugen Bemerkungen.

Nichts, einfach nichts, wird mehr von Ihrer Seite an mich heran getragen.  

Sie haben jetzt eine Stunde Zeit, über meinen Vorschlag nachzudenken. Wenn Sie einverstanden sind, haben Sie weiterhin ein stilles Kämmerlein. Wenn Sie nicht einverstanden sind, werfe ich Sie auf die Straße, und in den Allerwertesten werde ich Ihnen auch noch treten. Darauf hätte ich schon die ganze Zeit Lust.

Grübel ist blass geworden.

Er öffnet den Mund, doch ich lege den Zeigefinger auf meine Lippen, Grübel weicht zurück, ich nicke ihm zu und schließe die Tür.

Eine Stunde vergeht, doch ich höre nichts von ihm. Nur ein leises Vibrieren, als würden die wütenden Gedanken aus seiner Wohnung schwingen und durch die Wände zu mir dringen. Dann aber lassen die Schwingungen nach.

Ich vernehme ein leises Pochen. Richtig, als ich öffne, steht ein sehr bleicher und geschrumpfter Grübel vor der Tür.  

Mein Blick ist prüfend und abweisend.

Grübel macht den Mund auf und haucht ein schwaches: Okay.

Dann schleicht er in seine Wohnung zurück.

Damit er aber immer daran denkt, sich ruhig zu verhalten, habe ich noch folgendes getan: 

Ein Foto von mir machen lassen, Großaufnahme, wie ich meinen Zeigefinger auf die Lippen lege und meinem Nachbarn so signalisiere, keinen Laut mehr von sich zu geben.

Das klappt. Mein Nachbar verhält sich seitdem ruhig. Was er den ganzen Tag macht und tut, interessiert mich nicht mehr, ich habe genug mit meinem Leben zu tun.